Die jüdische Rekonstruktionsdebatte um den 3. Tempel

Die älteste literarische und zugleich politisch vielleicht bedeutendste Debatte über die Rekonstruktion eines Bauwerks in der Kulturgeschichte des Abendlandes hat seltsamer Weise in der Diskussion der letzten Jahre keine Rolle gespielt, obgleich an ihr die wesentlichen Fragen in hervorragender Weise verhandelt werden können: Der israelitische Tempel. Im folgenden Text  stellt Franziska Bark Hagen nach einer Einleitung von Philipp Oswalt die innerbiblische Debatte exemplarisch an den alttestamentarischen Positionen von Haggai und  Ezechiel dar.

Den biblischen Geschichten des Alten Testaments zufolge wurde der israelitische Tempel um 1000 v. Chr. unter König Salomon in Jerusalem errichtet wurde und dessen Entwurf, so die Erzählung, göttlich inspiriert war. Hier sollen die Bundeslade mit den Gesetzestafeln aufbewahrt worden sein, die Moses von Gott auf dem Berge Sinai erhalten hatte, und über viele Jahrhunderte stellte der Tempel das zentrale jüdische Heiligtum dar. Anhand seiner Geschichte und, daran anschliessend, der innerbiblischen Debatte um seine Wiedererrichtung soll gezeigt werden, wie das Bauwerk seit Jahrtausenden zu reaktionären wie zu progressiven Zwecken in den Dienst nicht nur religiöser, sondern ebenso soziologischer und politischer Anliegen gestellt wurde.

587.v.Chr. wurde Jerusalem von den Babyloniern erobert und dem Erdboden gleichgemacht. Der salomonische Tempel wurde niedergebrannt und glich einem Trümmerhaufen (2.Kön25, 8-21), die Oberschicht Judas wurde ins babylonische Exil deportiert. Die in Jerusalem verbliebene Unterschicht, die zahlenmäßig relativ gering war, versuchte auch während der Exilzeit eine bescheidene Opfertätigkeit auf dem ehemaligen Tempelplatz aufrechtzuerhalten (Jer 41,5). Nach der Darstellung des Esrabuches ließ der Perserkönig Kyros etwa 520 v.Chr. den nachexilischen Tempel – wohl auf den alten Fundamentsteinen und in seiner baulichen Gestaltung am vorexilischen Tempel orientiert – wiedererrichten (Esra 1,2-4; 6,3-5). Unter Herodes schließlich erfolgten sein Ausbau und die prunkvolle Neugestaltung im hellenistischen Stil. Er wurde 70 n. Chr. beim Aufstand der Juden gegen die römische Besatzung durch die Römer zerstört (vgl. Lk21,62).

Warum nun wurde dieser Tempel später nicht zum dritten Mal aufgebaut, obwohl er als zentrales Heiligtum der Juden gilt und die orthodoxen Juden dreimal täglich mit dem Gebet Amidah für die Wiedererrichtung des Tempels beten? Hierfür gibt es mehrere Erklärungen. Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Standort des Tempels ein seit Jahrtausenden umkämpfter, symbolisch hoch aufgeladener Ort ist.

Nach der zweiten Zerstörung des Tempels errichteten die Römer unter Hadrian auf dem Tempelberg zunächst einen Jupitertempel, um der Wiederkehr der Juden vorzubeugen. Dieser Tempel wurde unter dem zum Christentum konvertierten Kaiser Konstantin abgerissen und durch eine christliche Basilika ersetzt, welche von Kaiser Julian 363 n. Christus wiederum abgerissen wurde, um die beabsichtigte Wiedererrichtung des jüdischen Tempels zu ermöglichen. Gemäß der Schilderung des Geschichtsschreibers Theodoret wurde der Bau begonnen, jedoch traten auf der Baustelle Erdbeben und Feuer auf, weshalb die Bauleute schließlich ihr Vorhaben aufgaben und die Flucht ergriffen. Es folgt um 530 der Bau einer Kirche, die wenig später nach der Eroberung Jerusalems durch die Perser zerstört wird. 692 entsteht wenige Jahrzehnte nach dem Tod des Propheten Mohammed auf der ehemaligen Tempelstätte der Felsendom als drittwichtigste Wallfahrtstätte des Islams. Hier soll Mohammed gemäß der frühen Koranexegese bei seiner Reise nach Jerusalem zum Himmel gefahren sein. Der Bau des Felsendoms erfolgte zu einer Zeit, als wegen eines Bürgerkriegs im islamischen Reich die Wallfahrt nach Mekka unmöglich geworden war, wobei Jerusalem seit jeher im Islam eine herausragende Rolle spielte und nach wie vor spielt und neben Mekka, Meduna und Mansuare eine der vier Städte des Paradieses ist. In der Zeit der Belagerung Jerusalems durch die Kreuzritter in den Jahren 1099 bis 1187 nahmen diese den Felsendom in Besitz und richteten hier ihre Kirche, den Templum Domini, ein. Die benachbarte Al-Aqsa-Moschee wurde zugleich zum Hauptsitz des Tempelordens hergerichtet. Nach seinem Sieg über die Kreuzritter entfernte der islamische Herrscher Saldadin die christlichen Überformungen des Felsendoms und der Moschee.

Im Sechstagekrieg 1967 wurde der Tempelberg von den Israelis erobert. Seitdem setzen sich kleine radikale Gruppen nicht-sephardischer Rabbiner, unter anderem zunächst Rabbi Shlomo Goren und seine Anhänger, später dann die „Tempel Mount and Eretz Yisrael Faithfull Movement“ und das „Temple Institute“ für den sofortigen Wiederaufbau des jüdischen Tempels ein. Dieses Vorhaben allerdings verstößt gegen das durch das israelische Oberrabbinat wiederholt bestätigte Verbot im Judentum, den Tempelberg zu betreten. Ein Großteil der Bevölkerung und der Politik lehnt den Wiederaufbau des Tempels auch ab.

Ein wichtiger religiöser Grund hierfür ist, dass es für Juden ein Sakrileg wäre, die Stelle des Allerheiligsten des einstigen Tempels zu betreten, welches nur einmal jährlich einzig vom Hohepriester betreten werden durfte. Es gibt keine letztendliche Sicherheit über die exakte Lage des ehemalige Tempels und des Allerheiligsten, so dass dieser unwillentlich auf dem Tempelberg begangen werden könnte. Aufgrund dieses Unwissens besteht die Auffassung, dass der Wiederaufbau nur unter direkter Anleitung der alttestamentarischen Propheten Haggai, Zechariah und Maleachi geschehen kann. Also begnügt man sich gegenwärtig mit den Resten, welche die Zeiten überstanden haben –  das als Klagemauer bezeichnete Fragment der Stützmauer des 2. Tempels -, und betet für die Wiedererrichtung, ohne diese selber anzugehen. Der Vision des Propheten Ezechiels zufolge soll der dritte Tempel nämlich erst mit der Wiederkehr des Messias erfolgen. Aus heutiger Sicht erscheint eine solche Verschiebung der Rekonstruktion in eine utopische Zukunft als weiser Pragmatismus, als vielleicht einzig möglicher Modus Vivendi für diesen derart religiös überfrachteten Ort und die Koexistenz der drei monotheistischen Religionen.

Für manch eine Glaubensrichtung hat sich die Notwendigkeit eines Wiederaufbaus ohnehin erübrigt. Beispielsweise für das im Deutschland des 19. Jahrhunderts entstandene Reformjudentum ist der Tempel und die mit ihm verbundenen Opferriten eine veraltete, primitive Form des Judaismus, den man überwunden hat. Für reformierte Juden stellte jede Synagoge einen modernen Tempel dar. Für die Christen wiederum verkörpert der wieder auferstandene Jesus Christus den dritten Tempel, gemäss den Worten Jesu vor seiner Kreuzigung: „Reißt diesen Tempel ein, und ich werde ihn in drei Tagen wieder aufbauen“. (Joh2,21) Und der Apostel Paulus betont, dass Jesus und seine Anhänger, die christliche Kirche, der Tempel selber sind.


Gleichwohl waren es insbesondere die Christen, welche sich mit der möglichen Gestalt des Tempels befasst haben. Die zeichnerischen Rekonstruktionen des Tempels vom 17. Jahrhundert bis heute geben dabei weniger Auskunft über die historischen baulichen Gegebenheiten des Tempels als über ihre jeweils eigene Zeit – von der Renaissance (Juan Bautista Villapando, 1604) über den Barock (Johann Bernhard Fischer von Erlach, 1721) bis zur amerikanischen Moderne (Hugh Ferris, 1925). Es sind utopische Architekturskizzen, die gleichermaßen in die Vergangenheit wie in eine unerreichbare Zukunft weisen. (P.O.)


Haggai, Ezechiel, et al.

Die Innerbiblische Rekonstruktionsdebatte
Kein Bild vom Tempel lag auch den aus dem Exil zurückgekommenen Judäern vor und die Generation derer, die mit dem Tempel als Nationalheiligtum gelebt hatten, war lang verstorben, als ein Wiederaufbau ins Auge gefasst werden konnte. Zur Hand mögen Textteile gewesen sein, gerade von diesem ersten Tempel ist uns heute im Alten Testament eine erstaunlich detaillierte Baukonstruktionsbeschreibung überliefert. Dass sie der Bauleitung vergleichbar kanonisiert vorlag, ist auszuschließen. Worauf sich die aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem heimkehrenden Judäer beim Wiederaufbau gestützt haben, ist uns nicht überliefert. Es handelt sich folglich beim zweiten, dem serubabbelischen Tempel, um keine Rekonstruktion im engeren Sinn. In Aussehen, Größe und Grundriss unterschieden sich die Tempel voneinander, darauf lassen Berichte von anderen Quellen ebenso wie die Bauleitung schließen, – so war der erste Tempel von phönizischen Bauleitern geprägt und vergleichbar mit Tempeln der umliegenden Kanaaniter, wohingegen der Bauleiter des zweiten Tempels ein Perser namens Serubabbel war.

Lässt man einmal die genauen historischen Verortungen der betreffenden Texte außen vor und liest sie literaturanalytisch als Erzählungen in einem als Endtext kanonisierten Textkonvolut, dann fächert sich ein interliterarischer Diskurs auf mit unterschiedlichen Textsorten und sehr divergierenden Raumtypen. Anhand von zwei Textbeispielen sollen zwei Protagonisten dieses Diskurses vorgestellt werden. Das wäre zum einen Haggai, das Buch über die Tempelrekonstruktion, das exemplarisch ist für die prophetischen Rekonstruktionsbefürworter, deren Selbstverständnis aufs Engste mit dem Tempel als identitätsstiftendes Symbol und mit dessen Rekonstruktion verknüpft ist. Und zum andern Ezechiel, Kapitel 40-48, wo die Tempelvision Ezechiels als eine in ein architektonisches Gewand gekleidete soziale Utopie gelesen wird, die eine grundlegende gesellschaftliche Transformation beschreibt. Diese unterschiedlichen Positionen der Protagonisten Haggai und Ezechiel im Blick auf die Rekonstruktion, bieten einen Einblick in die Bandbreite der dem Diskurs zugrunde liegenden politischen und sozialen Motivationen. Sie erzählen auch von der Instrumentalisierung theologischer Plattformen.

Wenn man nach den Beweggründen für die Verschriftung von Kulturgütern, oder, wie die Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann es formuliert, für die „Exkarnation“ bisher gelebter, oraler Traditionen in Form von Texten fragt, bietet sich die Beobachtung von Jan und Aleida Assmann an, dass Verschriftung im Sinne eines Kanonisierungsschubs infolge von großen Krisen stattfindet. Sämtliche Positionen in der Hebräischen Bibel, die auf die Frage nach dem „richtigen Ort“ für Gott mit architektonischen Beschreibungen oder Bauanleitungen antworten, entstanden in der Zeit nach der Zerstörung Jerusalems und des ersten, Salomonischen Tempels. Die betreffenden Texte wurden im Exil und nach dem Exil verfasst beziehungsweise endredigiert; die wichtigsten darunter sind die Beschreibung des Baus des Salomonischen Tempels (1. Kön 5-7, 2. Chr 2-4, und kleinere Notizen in Jer 53 und 2. Kön 25), zwei äußerst detaillierten Raumkonstruktionsbeschreibungen (Ex 25-31, 35-40 und Ez 40-48) sowie mehrere Statements für die Rekonstruktion des zerstörten Jerusalems (Hag; Sach 1-8; Es 1-6; Neh). Die Erfahrungen, die diesen Texten demzufolge eingeschrieben sind, sind solche der Invasion, Zerstörung, Deportation und des Exils in Babylon sowie der Rückkehr in eine völlig veränderte Gesellschaft.

Solcher Art traumatische Ereignisse bringen große Verluste mit sich. Man kann sich vorstellen, wie Zerstörung und Chaos das Niveau des intellektuellen Lebens gesenkt haben.

Im Allgemeinen wird angenommen, dass viele der Priester, die einer großen sowohl wissenschaftlichen als auch literarischen Gelehrtentradition angehörten und die für die Entstehung und Redaktion großer Teile der Hebräischen Bibel verantwortlich sind, mit den Angehörigen der gehobenen Gesellschaftsschicht Judas nach Babylonien deportiert worden waren. Die Auswirkungen solch großer Verluste auf das kollektive Gedächtnis kann man nur vermuten, und doch lässt sich, wie die britische Anthropologin und Bibelwissenschaftlerin Mary Douglas bemerkt, auch ein positiver Aspekt ausmachen: die Erfahrungen der politischen Frustration und eines Zusammenbruchs der Institutionen können zu einer religiösen Erneuerung führen, nämlich zu einer Reinigung des traditionellen Glaubensbekenntnisses und der Fokussierung auf rein theologische Qualitäten. Praxis, so schreibt sie, wurde durch „Ideologie“ und eine Intellektualisierung des Glaubens abgelöst.[1]

Die reale, physische Situation, bspw. die Stadt Jerusalem selber, kann man sich auch noch nach Jahrzehnten der Invasion relativ zerstört vorstellen. Das Buch Haggai berichtet vom Aufbau einzelner, getäfelter Häuser, und Nehemia vom Wiederaufbau der Befestigungsmauer um Jerusalem als Vorbereitung für die Rückkehr der Deportierten aus dem Exil. Der zerstörte Tempel hingegen blieb als ein Ground Zero inmitten Jerusalems sehr präsent. Es ist dieser historische Kontext, intellektuell wie physisch, der die Stellungnahmen zur Tempelrekonstruktion in Haggai und in Ezechiel geprägt hat.

Das Buch Haggai, ein schmales Büchlein von zwei Kapiteln, vertritt, gemeinsam mit Sacharja, mit dessen ersten acht Kapiteln es eine inhaltliche Einheit bildet, sowie mit Esra und Nehemia, die Position der Befürworter der Rekonstruktion des salomonischen Tempels in Jerusalem. Nach der Eroberung Judas durch den neubabylonischen König Nebukadnezar II. und der Zerstörung des Tempels in Jerusalem, war ein Großteil der Bevölkerung 586 v. Chr. nach Babylonien deportiert worden. Haggai, ein Mann ohne nennenswerten Stammbaum, zählt zur zurück gebliebenen Landbevölkerung. Dort wird er zum Sprachrohr Gottes. Das nach ihm benannte Buch folgt einem klaren Aufbau: göttliche Eifersucht führt zur Bestrafung des Volkes, zu dessen Reue, zur göttlichen Vergebung und zur Inspiration menschlicher Agenten, die dann direkte Verantwortung für den Tempelaufbau übernehmen. Es sind die schönen „getäfelten Häuser“, die sich die Bevölkerung, anstelle eines neuen Tempels für ihn, gebaut hat, die Gott verärgern. Das führt ihn dazu, eine Trockenperiode über das Land zu schicken. (Hag.1: 4-11) Als der vermittelnde Prophet Haggai seine Leute darauf aufmerksam macht, bereuen sie schließlich und machen sich unter der göttlich inspirierten Führerschaft durch Serubabbel, dem lokalen persischen Sonderbeauftragten, und Jeschua, dem Hohepriester, an das von Gott beauftragte Werk und beginnen mit dem Bau des neuen Tempels, dessen Abschluss nicht erzählt wird.

Die Erzählung folgt in ihrem Vorgehen – ebenso wie die ersten acht Kapitel in Sacharja – ziemlich genau der im antiken Nahen Osten gebräuchlichen Standardvorlage für literarische Berichte von Tempelkonstruktionen. [2] Die Erzählperspektive ist dementsprechend begrenzt, als ob man das Objektiv ein wenig zu eng gestellt hätte: es ist auf das einzige Thema „Rekonstruktion“ fixiert und produziert einen context of no context. Was hier nicht expliziert wird – aber in verschiedenen anderen biblischen Büchern, beispielsweise Jeremia, erzählt wird – ist die Vorgeschichte, das Trauma der Zerstörung Jerusalems und des Tempels verbunden mit der Deportation der gesamten Oberschicht Judas. Durch diese Aussparung des historischen Kontextes wird das Augenmerk auf das Programm gelenkt: der zukünftige Segen Judas steht und fällt mit der Rekonstruktion des Tempels. „Ist unter euch noch einer übrig, der diesen Tempel in seiner früheren Herrlichkeit gesehen hat? Und was seht ihr jetzt?“ (2:3), fragt Gott. Mit dem Gold der „erschütterten Heiden“ und „aller Völker Kostbarkeiten“ will er „dies Haus voll Herrlichkeit machen“. Dem kraftmeierischen Gestus folgt eine gezielte Ansprache an die Adressaten:

Mit Getreidebrand und Mehltau und Hagel schlug ich euch und machte alle eure Arbeit zunichte, und doch wandtet ihr euch mir nicht zu – Spruch des Herrn. Gebt acht, was von heute an geschieht, (…) dem Tag, an dem der Grundstein zum Tempel des Herrn gelegt wurde. (…) Von heute an spende ich Segen. (2:16 – 19)

Die Rechnung ist einfach: Abkehr zieht die Strafe Gottes nach sich und bedeutet Armut, hingegen werden Umkehr und Tempelbau mit gesegnetem Reichtum belohnt. Der sprachliche Kontext von Haggai zeichnet den Propheten nicht eben als lyrischen Wortverschwender, sondern als einfachen Mann aus der Landbevölkerung, der hier zum Sprachrohr Gottes wird. Die von ihm bemühten Vergleiche gehen dementsprechend auf die konkreten Lebensbedingungen der Betroffenen ein, das karge Leben, die Dürre, den Ölbaum, den Granatbaum, den Weinstock und Feigenbaum, deren Samen in Folge von Gottes Intervention dahinschwindet. Von Transzendenz keine Spur. Und das beschriebene setting samt seinen Protagonisten, – das vermutlich um seine nackte Existenz besorgte Volk, Haggai, und der eifersüchtige Gott, der haben will, was die anderen haben – werden relativ flach gezeichnet.

Der literarische Kontext von Haggai ist interessant, nicht zuletzt weil er sich in der jüdischen und der christlichen Bibel unterscheidet und damit differierende inhaltliche Stoßrichtungen erfährt. In der christlichen Tradition sind Haggai, Sacharja und Maleachi Teil der so genannten „12 kleinen Propheten“ und aufgrund einer Umstellung der ursprünglichen Abfolge die letzten drei Bücher und somit der Abschluss des Alten Testaments. Dieses endet mit dem Heilsversprechen Gottes, das an die Tempelrekonstruktion geknüpft ist (Haggai), sowie u.a. mit der Mahnung an die Wiederaufnahme und Reinigung des Kultes nach Aufbau des Tempels (Sacharja) und einer eschatologischen Geste (Maleachi). Es endet damit in der christlichen Tradition mit einer Leerstelle, mit dem Verweis auf etwas, das sich noch nicht eingelöst hat, aber kommen wird. Blättert man weiter, beginnt das nächste Buch, das Evangelium nach Matthäus und damit das Neue Testament, – und es beginnt mit der Geburt von Jesus. Und dieser absorbiert gleichsam, so die Theologie, den Ritus und ersetzt damit den Tempel als Ort für Gottes Präsenz und die Begegnung mit ihm. Haggai und seinesgleichen kann man nun also getrost als in einen völlig anachronistischen Diskurs verwickelt vergessen. Nicht so in der jüdischen Tradition. In der fünfgeteilten Anordnung der Bücher der hebräischen Bibel folgt auf Haggai, Sacharja und Maleachi, die Teil der „Prophetenbücher“ sind, ein weiteres, letztes Buchkonvolut, die so genannten „Schriften“, ein völlig anders geartetes Schriftwerk, in dem aber die Frage der Tempelrekonstruktion in den Büchern Esra und Nehemia wieder auftaucht. Haggai bleibt folglich zusammen mit Sacharja sowie mit den Büchern Esra und Nehemia in der jüdischen Tradition als einer der Texte eingebettet, welche die Rekonstruktion des zerstörten Tempels und dessen Reimplementierung als identitätsstiftendes Zentrum programmatisch vertreten und mit ihrer uneingeschränkten Befürwortung die stärkste und konservativste Fraktion innerhalb des Diskurses bezüglich des richtigen Ortes für Gottes Anwesenheit darstellen. Die Leerstelle, die hier verhandelt wird, ist eine ganz reale im Sinne eines bereits seit Jahrzehnten währenden physischen wie spirituellen Ground Zero in Jerusalem.

Die Datierungen des Wiederaufbaus unterscheiden sich beim Buch Haggai und den anderen „Rekonstruktionsbefürwortern“ Sacharja sowie Esra und Nehemia. Er erstreckt sich über den Zeitraum von 65 bis 106 Jahren (wahrscheinlich ist ein Baubeginn in den 440ern v. Chr.). Das erscheint relativ groß, liefert einem modernen Historiker aber doch einen guten Ausgangspunkt um nachzuforschen, wann der Tempel gebaut wurde. Warum der Tempel gebaut wurde, dafür liefert jedoch keines der biblischen Bücher einen logischen Grund. Auch im Buch Haggai wird nicht vermittelt, welchen Vorteil solch ein aufwendiger Wiederaufbau etwa für einen persischen König, der das Projekt autorisierte bzw. befürwortete, gehabt haben könnte.[3] In der Erzählung dient als Begründung für die Rekonstruktion der Wunsch Gottes, dem es nach einem Haus verlangt, das ihn erfreut und in dem er sich in seiner Herrlichkeit zeigen kann. Das Volk, das Jahre der Dürre hinter sich hat und sich erstmal um die Existenzsicherung, um den Aufbau der eigenen Häuser gekümmert hat, muss erst zum Tempelbau überredet werden. Da macht sich der Eindruck eines existentiell ausgemergelten Volkes breit, das weder Zeit noch Kraft hat für den Tempelbau, aber durch die Drohgebärden seines Gottes, der gerade diese Situation als sein Tun ausweist, mehr oder weniger dazu genötigt wird. Wenn man bedenkt, dass das Thema des richtigen Ortes für Gott bzw. für die Begegnung mit ihm die gesamte Hebräische Bibel durchzieht und innerhalb der Erzählungen über die Aitiologie des Gottesvolkes Israel der Bau des Tempels als Nationalheiligtum schließlich einen wichtigen Höhepunkt darstellt und ab dann das Zentrum des Staates bildet, dann überrascht die Häufigkeit der für die Rekonstruktion vertretenen Statements allerdings nicht. Das Selbstverständnis der prophetischen Befürworter ist, so vermittelt es der Text, mit dem Tempel als dem identitätsstiftenden Symbol für das – immer mal wieder anderwärts präokkupierte bzw. abtrünnige – Gottesvolk und als Symbol für die wohlwollende Präsenz Gottes auf das Engste verknüpft. Das vermittelt sich eindrücklich in der wortgewaltigen Klage über die Zerstörung des Tempels und seine Folgen im Buch Jeremia. Der rekonstruierte Tempel steht ostentativ sowohl für das wieder etablierte Verhältnis mit Gott als auch für ein wieder etabliertes Verhältnis zu einem hierarchisch organisierten Staat, in dem es zwar keinen lokalen König mehr gibt,  wo aber Serubabbel als davidischer Nachfolger und Perser ein von Gott geweihter Vertreter des machthabenden Systems ist.

So weit, so gut. Und doch gibt es Stimmen in der Hebräischen Bibel, die diesbezüglich eine andere Position vertreten, auch ein Gegenmodell entwerfen: nämlich ein transportables Wüstenheiligtum – ein diasporisches Unterfangen, das an dieser Stelle nicht diskutiert werden kann –  sowie eine Vision vom Tempel, in der sich das Autorenteam zwar der Symbolik des Tempels bedient, sie aber zugunsten der Vision einer gesellschaftlichen Neustrukturierung instrumentalisiert. Davon soll im Folgenden die Rede sein.

Der Prophet Ezechiel hat etwa eine Generation früher als Haggai gelebt, er gehörte als Priester zur judäischen Elite und zu den ersten, die – und zwar bereits Jahre vor der Zerstörung Jerusalems – nach Babylonien deportiert worden waren. Im Exil wird er zum Propheten und hat die nach der Zerstörung des Tempels offensichtlich auch im Exil kursierende Rekonstruktionsfrage zu ganz eigenen Zwecken instrumentalisiert. Ezechiels Tempelvision ist eine Alternative zur Nostalgie jener Autoren, die eine Restaurierung des verlorenen Zustandes herbeisehnen. In seiner Tempelvision geht es vielmehr um die Transformation dessen, was war, es geht um eine neue Ordnung.

Ezechiel erzählt von einer Vision, in der er, geführt von einem bronzenen Boten Gottes, den Grundriss eines Tempels vermisst. Ebenso wie die Erzählung in Haggai ist auch die Vision Ezechiels ein context of no context, mit dem Unterschied, dass man in Folge der Rahmung der Beschreibungen als „Vision“ keine reale Anbindung erwartet. Die Beschreibung dieses Vermessens also zeichnet sich durch ihren Detailreichtum und ihre Nicht-Visualisierbarkeit aus. Beschrieben wird dabei jedoch kein Bauplan, wie so oft angenommen, im Grunde noch nicht einmal ein Raum, denn was nicht vermessen wird, sind – mit Ausnahme weniger Durchgänge – die Höhen. Beim visionierten „Tempel“ handelt es sich demnach um einen Grundriss.

Untersucht man die narrative Struktur der Vision, wird deutlich, was der Text macht. Auf ein systematisches und folglich intendiertes Textarrangement verweist die Tatsache, dass es sich bei den vorliegenden Kapiteln um eine Zusammenstellung von Maßangaben handelt, bei der a) bis auf zwei Ausnahmen die Vertikalen fehlen, die dabei aber b) präzise genug ist, um die heiligsten Räume zu definieren, jedoch c) desto ungenauer wird, je profaner der Raum jeweils ist. Der Text unterminiert zwar einerseits seine Visualisierung, vermittelt aber andererseits sehr wohl einen starken Eindruck nicht vom Tempel als totum, aber doch vom Tempel als einem Raumgefüge. Es entsteht also analog zum erzählten Prozess des Vermessens der Raumkörper ‚Tempel’ als eine Raumabfolge, der eine gradierte Heiligkeit zugrunde liegt und die eine eigene Funktionsbestimmung hat. Die Raumanordnungen arrangieren sich zu einem symbolischen System, das im Nachvollzug des Tempelrundgangs (in der Imagination des Lesers) Raum greift. An der Schritt für Schritt, Elle für Elle bemessenen Raumanordnung – dem Tempel samt seinem Verhältnis zum umgebenden Land – werden Facetten einer Territorialität deutlich gemacht. Diese betreffen sowohl das konkret Räumliche als auch den sozialen Bereich. Sie beziehen sich auf Orte und Räume und zugleich auf die Machtverhältnisse und ortspezifischen Handlungen, die mit der Kontrolle des Zugangs zu jenen Orten und Räumen zusammenhängen.

Den beschriebenen Raumanordnungen unterliegt eine territoriale Rhetorik, die auf eine soziale Ordnung verweist: Nachdem die äußere Grenze des Territoriums bestimmt ist, fängt der Vermessende an, die Gebiete, die zum gesamten Gebäudekomplex des Tempels gehören, zu definieren. Jeder Bereich hat eine eigene Art Öffnung in der Abgrenzung, die den Durchgang zwischen den jeweiligen Bereichen markiert. Es sind dies unter anderem Tore, Treppen und Durchgänge. Die Tore selber sind Bereiche, die wiederum in eigene Bereiche, in Nebenräume, Schwellen und Pfosten, unterteilt sind. Der Zutritt zu den jeweiligen Bereichen hängt von der gesellschaftlichen Position ab. Jede Anstrengung, die Kontrolle über ein Territorium zu behaupten, ist nur genau so effektiv wie die Mittel, den Zugang dazu zu kontrollieren. Aus diesem Grunde sind die Tore massive Konstruktionen, weil sie die erste Abwehr gegen unerlaubten Zutritt zum Tempel und damit zum Allerheiligsten und dem Altar darstellen.

Interessant ist neben den ausgemacht komplizierten Raumgefügen, die soziale Komponente dieser Rhetorik. Es geht um Machtverhältnisse und um ortspezifische Handlungen, die jeweils abhängig sind von der gesellschaftlichen Stellung der Protagonisten, deren jeweilige Positionierung innerhalb des sozialen Systems untrennbar mit dem architektonischen Raumgefüge verknüpft wird, ja an diesem festgemacht ist; darüber wird der Leser genau informiert. Die architektonische Ordnung transportiert eine soziale Ordnung, die für die unterschiedlichen Protagonisten der Vision verbindlich ist: für den bronzenen Führer und Ezechiel, für Gott, aber auch in Bezug zu den in Zukunft amtierenden Priestern und Leviten sowie dem Volk. Die Frage ist: welche performative Funktion hatte diese in der hebräischen Bibel meines Wissens nach einzigartige, territoriale Rhetorik?

Basierend auf der Annahme, dass Gesellschaften durch ihre räumliche Organisation definiert werden,  bedeutet jedwede Veränderung dieser Organisation durch eine Neugestaltung der Zutritte eine Veränderung in der sozialen Geographie dieser Gesellschaft[4]. So lässt sich schlussfolgern, dass die Intention der Tempelvision Ezechiels die Veränderung der Gesellschaft Israels ist, indiziert durch die Art und Weise, in welcher diese Vision räumlich organisiert ist. Das Haus Gottes ist der zentrale Ort für eine neue Gesellschaft, es ist der Mittler zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Kosmischen. Die gesellschaftlichen Umwälzungen, welche die Realisation dieser Vision mit sich brächte, kann man sich nicht drastisch genug vorstellen. In der Vision wird die Stadt nicht länger Jerusalem genannt; auch wenn am gleichen Ort wie Jerusalem lokalisiert, ist die Stadt nun nicht mehr die Enklave Judas, sondern die Stadt für alle Stämme Israels. Kein davidischer König des prä-exilischen Judas bewohnt hier sein eigenes Territorium und kontrolliert den Zutritt zum Tempel und dem umliegenden Land. Kein menschlicher König also, sondern Gott wohnt inmitten dieser Stadt. Der König ist durch den nāśī ersetzt, eine rhetorische Strategie, die den Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Israel deutlich macht. In einer Welt, in der Könige Tempel bauten, stellen sich die Verfasser dieses Textes einen Tempel vor, der nicht das Machwerk, geschweige denn das Territorium eines menschlichen Königs wäre. Das monarchische System ist in diesem Text völlig unterminiert, ja aufgehoben.

Die visionierte Neustrukturierung einer zukünftigen Gesellschaft, welche in der Neudefinition der Beziehungen zwischen den einzelnen Gliedern der Gesellschaft begründet liegt, zeichnet sich durch eine Machtbalance aus: Die Priester sind zwar diejenigen, die das Zutrittsrecht zum Tempel und Allerheiligsten kontrollieren, sie besitzen aber kein Land. Ihr Auskommen, ihre Existenz gar, hängt damit vom Verhältnis zu denjenigen ab, welche Land besitzen. Dies steht in hartem Kontrast zur Monarchie, welche sowohl den Tempel als auch das Land kontrollierte. Das Buch Ezechiel schließt somit mit der Vision von einer Transformation der Gesellschaft und von einer neuen Welt, einer geheilten und geheiligten Welt, in der Gott inmitten wohnt. Die Theologie der Trennungen (zwischen Geheiligtem/Reinem und Profanem/Unreinem, auch von Verantwortlichkeiten und ihrer Verortung) zeigt sich hier als eine Soziologie der Vereinigung. Diese geht von einer einzigen Gemeinschaft aus, welche im eigenen Land wohnt, einen eigenen Tempel besitzt und sich Gottes, ihres Königs, als zentralem Bezugspunkt sicher ist. (F.B.H.)

Franziska Bark Hagen, Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin, lehrt an der Züricher Hochschule der Künste


[1] Douglas, Mary: Jacob’s Tears – The Priestly Work of Reconciliation, Oxford University Press, Oxford, 2004, 6.

[2] Hurowitz, Viktor (Avigdor): I Have Built You an Exalted House: Temple Building in the Bibel in Light of Mesopotamia and Northwest Semitic Wiritings, Journal for the Study of the Old Testament, Supplement Series, 115, Sheffield: Sheffield Academic Press, 1992, 32-64, 137-38, 209-15, 220.

[3] Eine überzeugende These, welche die Rekonstruktion historisch sinnvoll erscheinen lässt, liefert die amerikanische Bibelwissenschaftlerin Diana Edelman: Der Tempel wurde zu einer Zeit aufgebaut, in der Jerusalem selber als eine befestigte Zitadelle errichtet wurde. Es war Teil eines größeren Bauvorhabens, das einen Tempel für JHWH, den lokalen Gott, etablierte für die neu eingezogene Bevölkerung und lokalen Rekruten, die auf der Garnison stationiert waren und diesen Gott zu ehren pflegten. Man muss sich also vorstellen, dass die von Serubabbel und Jeschua angeführten Heimkehrer erst ankamen, um die Arbeit zu verrichten und sich dann in der Provinz anzusiedeln. Man kann, so Edelman, davon ausgehen, dass die Wiederansiedlung und der Wiederaufbau des Tempels Teil einer größeren persischen Politik war, die ein Netzwerk von Wachstationen, Gaststätten und Karavansereien entlang der Hauptstrassensysteme des Reiches etablierten, um Handel, imperiale Kommunikation und militärische Mobilität zu ermöglichen. Ausgangspunkt für diese strategischen Überlegungen war die Tatsache, dass Jerusalem im Vergleich mit dem alten Provinzsitz Mizpah nicht nur über eine eigene ganzjährige Wasserquelle verfügte, sondern vor allem an dem wichtigsten Nord-Süd -, Ost-West – Knotenpunkt lag. Edelman, Diana: The Origins of the ‚Second’ Tempel, Persian Imperial Policy and the Rebuilding of Jerusalem, Equinox, London, 2005, 9.

Für andere Schlussfolgerungen siehe u.a.: Willi-Plein, Ina: Haggai, Secharja, Maleachi, Zürcher Bibelkommentare, Theologischer Verlag Zürich, Zürich, 2007.

[4] Zur sozialen Geographie siehe Pred, Making Histories and Constructing Human Geographies: The Local Transformation of Practice, Power Relations and Consciousness, 9, 11, 229.

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