Polen: Ein blinder Fleck der Kolonialismusdebatte im Humboldtforum

von Agnieszka Pufelska

Gross wurde vor ein paar Wochen das Jubiläum der 1848er Revolution durch das Humboldt-Forum im Berliner Schloss gefeiert. Im Rahmen des Wochenendes für Demokratie fanden dort zahlreiche Veranstaltungen statt, welche die Revolution von 1848/49 «europäisch zu denken» versprachen. Dass keine einzige davon die mit dem Datum in Verbindung stehende brutale Niederschlagung des polnischen Aufstands im damaligen preussischen Grossherzogtum Posen thematisierte, scheint programmatisch für den Umgang des Humboldt-Forums mit dem östlichen Nachbarland. Diese repräsentative Institution im Zentrum Berlins, die sich als ein Ort für Kultur und Wissenschaft, für Austausch und Debatten begreift, vertritt ein stark reduktionistisches Verständnis von Europa.

Im Berliner Schloss wurden viele Entscheidungen getroffen, die Polens Untergang und seine darauffolgende tragische Anbindung an den preussischen Staat besiegelten. Über 100 Jahre stellten die Polen mit fast zehn Prozent die grösste Minderheit Preussens dar. Berlin war sowohl Hauptstadt der ungeliebten Besatzer als auch Zielort einer polnischen Binnenauswanderung und Landflucht aus den dürftigen Lebens- und Arbeitsbedingungen der östlichen Provinzen.

In den zahlreichen Ausstellungsräumen, in den Veröffentlichungen und auf den Diskussionsveranstaltungen des Humboldt-Forums zur lokalen Migration, Einwanderung und Diversität kommt die vielschichtig verflochtene preussisch/deutsch-polnische Geschichte aber nicht vor.

Nur keine heiklen Themen

Die fehlende Bereitschaft, ein differenziertes Preussenbild zu vermitteln, ist sicherlich durch das Ziel bedingt, die Wiedererrichtung des «Schlosses» nach Möglichkeit nicht infrage zu stellen. Ungeachtet der schön geputzten Aussenfassade kommen die Abgründe und Schrecken der Geschichte jedoch per Klischee und Ignoranz durch die Hintertür wieder herein.

Ein Online-Beitrag des Humboldt-Forums, der die Leistung des Schlossbaumeisters Andreas Schlüter hochpreist, ist sich sicher: «Natürlich gaben die Schlösser des französischen Sonnenkönigs Louis XIV in Versailles das Vorbild für die erste preussische Königsresidenz in Berlin.» Dass der bis heute kaum identifizierbare Andreas Schlüter wahrscheinlich aus Danzig kam, das unter der Oberhoheit des polnischen Königs stand, und vor seiner Berliner Zeit am Bau der königlichen Residenz in Wilanów bei Warschau mitwirkte, wird mit keinem Wort erwähnt.

Provinz Posen, 1848 Q: Wikimedia, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Provinz_Posen_1848.jpg

Offenbar ist es aus der Perspektive des Humboldt-Forums schwer vorstellbar, dass der Vater des «preussischen Barocks» seine Lehr- und Wanderjahre, die das künstlerische Fundament für sein Schaffen legten und ihm den Weg für seine Erfolge in Berlin ebneten, in Polen absolvierte.

Gewiss übten auch die Auslandsreisen einen grossen Einfluss auf ihn aus, wozu Schlüters Schaffensperiode am preussischen Hof zahlreiche Belege liefert. Doch unabhängig von der stets wachsenden Erfahrung variierten die Auswahl seiner Motive wie auch deren bildmässige Umsetzung nach dem Weggang aus Polen relativ wenig.

Einer der beiden Namensgeber des Forums war weniger ignorant. Zeit seines Lebens setzte sich Alexander von Humboldt für die polnische Unabhängigkeit ein und pflegte intensive Kontakte zu polnischen Intellektuellen. In seiner Korrespondenz mit Karl August Varnhagen weist er durchgehend auf den untrennbaren Konnex von antiliberalen und antikonstitutionellen Kräften in Preussen mit antisemitischen Tendenzen hin. Es gab in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zweifellos einen antipolnischen kolonialen Imperialismus.

Tatsächlich fand die territoriale Expansion Preussens vor allem auf Kosten Polens statt. Noch 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, in dem auch zahlreiche polnische Soldaten in deutschen Uniformen an den Fronten starben, schrieb der frühere Reichskanzler Bernhard von Bülow: «Das Kolonisationswerk im deutschen Osten, das, vor beinahe einem Jahrtausend begonnen, heute noch nicht beendet ist, ist nicht nur das grösste, es ist das einzige, das uns Deutschen bisher gelungen ist. Niemals in der Weltgeschichte ist um eine Kolonisation von solchem Umfange weniger Blut geflossen, weniger Gewalt geschehen, als um diese.»

Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Besiedlung des Ostens in das deutsche Kolonialismusmodell als «Ostkolonisation» eingespeist und als «Grenzkolonialismus» gerechtfertigt. In der Publizistik, in der Literatur, aber auch in der Geschichtsschreibung und in der Öffentlichkeit ganz allgemein sah man die Deutschen insgesamt in der Rolle der «Kulturträger» gegenüber den Slawen.

Europäischer Binnenkolonialismus

Obwohl das Humboldt-Forum «Kolonialismus und Kolonialität» zum «Kernthema» des eigenen Programms erhoben hat und nach eigenem Bekunden «die Komplexität der kolonialen Geschichte(n) mit ihren Verwicklungen in die Gegenwart» sichtbar machen will, scheint es am europäischen Binnenkolonialismus kein Interesse zu haben. Die Chance, eine öffentliche Debatte über die verschiedenen Formen und Folgen des deutschen Kolonialismus zu führen, wird dadurch versäumt.

Die «Verwestlichung» Andreas Schlüters und der einseitige Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte machen deutlich, wie weitgehend und unreflektiert das Humboldt-Forum die seit Jahrhunderten praktizierte Vorherrschaft des westeuropäischen Diskurses in der Interpretation gesamteuropäischer Vergangenheit übernimmt.

Während die Geschehnisse und Zustände auf anderen Kontinenten im Fokus seiner thematischen Ausrichtung stehen, bleiben Auseinandersetzungen mit den östlichen Nachbarn und somit auch die kritische Reflexion über die polnisch-preussische Geschichte eine Seltenheit. Seine «Ostperspektive» scheint lediglich auf den Palast der Republik beschränkt zu sein, und dies auch nur temporär.

Der Aufstieg Preussens zur Grossmacht ist jedoch ohne dessen kolonialistisch-imperiale Ausdehnung nach Polen nicht denkbar. Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine werden die Existenz eines innereuropäischen Kolonialismus sowie die Bedeutung des östlichen Europa für den globalen Kontext kaum mehr infrage gestellt. Es bleibt daher zu hoffen, dass auch dem Humboldt-Forum diesbezüglich bald das nötige Licht aufgehen wird.

Agnieszka Pufelska ist Kulturhistorikerin und Privatdozentin am Nordost-Institut an der Universität Hamburg in Lüneburg. Der Text erschien zuerst in der Neuen Züricher Zeitung am 19.5.2023

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