Ein Ende der Wundpflege

In einem brillianten Aufsatz analysiert der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt, was sich beim Umgang mit alter Bausubstanz geändert hat. Beitrag zur Jahrestagung des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz in Leipzig

Die Forderung klingt wenig karitativ: Mit der Wundpflege müsse es in der Architektur ein Ende haben. Sie wurde sogar schon an prominentem Ort erhoben, im Deutschen Bundestag. In einer Debatte des Jahres 2002, bei der es um den rekonstruierenden Neubau des Berliner Schlosses ging, wandte sich die damalige Vizepräsidentin Antje Vollmer gegen den „Kult der offenen Wunde“. Schluss müsse sein mit dem alten Parzival-Motiv. Die Äußerung fiel in einem Plädoyer für die Wiederherstellung der historischen Mitte, für die Beseitigung der städtebaulichen Wunde. Aber inzwischen hat die Parole auch auf Theorie und Praxis des Umgangs mit noch bestehenden Bauten übergegriffen.

Dort ist das Alte, hier ist das Neue

Wenn es in der älteren Moderne eine Übereinstimmung im Verhalten dem Altüberlieferten gegenüber gab, dann war es jene, die der Tübinger Kunsthistoriker Konrad Lange 1906 ausgedrückt hatte: „Jedes restaurierte Stück soll auch ohne Jahreszahl und Inschrift dem Beschauer sagen: Dort ist das Alte, hier ist das Neue“. Das Neue sollte sich nicht mit dem Alten gemein machen. Was hinzukam, hatte auf Abstand zu achten. Distanz galt als Frage der Sauberkeit, der Ehrlichkeit, der Höflichkeit, mithin der Moral. Der große Streit in der Denkmalpflege, der sich an der beabsichtigten Rekonstruktion – in jener Zeit sagte man „Restauration“ – des Ottheinrichbaus im Heidelberger Schloss entzündete, ging um diese Frage und beschäftigte die Zeitgenossen nicht nur vor dem Ersten Weltkrieg.

Man hatte sich nicht gemein zu machen mit der Vergangenheit. „Mitten unter die ehrliche Wirklich¬keit Masken und Ge¬spenster sich mischen zu sehen, erfüllt mit Grauen“, grollte Georg Dehio. Das Distanzierungsbedürfnis hatte viele Gründe. Es konnte entstehen aus dem Überdruss am Historisieren, der nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, auf dem Wege zu Reform und Neuem Bauen zunahm. Es konnte auch im Gegenteil getragen sein vom Respekt vor dem Alten, seinem unerreichbar hohen handwerklichen Können, seiner originalen Prägekraft, die nicht der blinden Nachahmung ausgeliefert werden durften. Es konnte motiviert sein von dem Wunsche, den Urkundenwert des Überlieferten nicht zu verfälschen, die Quellen rein zu halten. Es konnte zu tun haben mit dem Selbstbewusstsein der Gegenwart, die auf dem eigenen Recht auf eigenen Ausdruck bestand.

Es konnte schließlich auch entsprungen sein aus einer Skepsis gegenüber allem ganzheitlich Übergreifenden, das Diverses zur Einheit zusammenzwingen möchte. Ganzheiten, wie sie die traditionelle Metaphysik erträumt habe, hätten stets den autoritären Herrschaftssystemen als Maske und Legitimation gedient, kann man bei dem italienischen Ästhetiker Gianni Vattimo lesen. Ist es ein Zufall, dass in der gleichzeitigen Philosophie immer wieder Begriffe wie Distanz und Differenz auftraten, wenn auch meist in anderen Zusammenhängen, so bei Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Jacques Derrida, den auch in Deutschland viel gelesenen französischen Autoren?

In der Architektur gab es für diese Haltung eine charakteristische Form, die wieder und wieder angewendet wurde. Das war die Fuge. Bauen im historischen Kontext wurde zu einer Kunst der Fuge. Das Neue schloss nicht selbstverständlich an das Alte an. Es zeigte Berührungsängste, näherte sich nur vorsichtig dem Platzhalter. Es folgte nicht einfach Putzfläche auf Hausteinfassade oder Backstein auf Sichtbeton. Die Baumeister der Distanzierung legten Schnitte zwischen das Eine und das Andere. Die Fuge bildeten sie nicht nur als eine Grenze zwischen Formen und Materialien aus, sondern verliehen ihr eine positiv eigene Gestalt. Sie unterschieden sie im Gestus nicht nur vom Bestand, sondern auch von der jüngeren Zutat. Bei Peter Kulkas Sächsischem Landtag in Dresden beispielsweise ist der Einschnitt zu einer Wand geworden. Den älteren Bauteil, der schon Parteistellen der NSDAP wie der SED aufgenommen hatte, deckt sie ab und tritt in der Eingangsansicht als schmale energische Vertikale auf.

Vorzugsweise wurde die Fuge aber als schwereloses Gelenkstück ausgebildet. Sie zeigte dünne Metallsprossen, war filigran, transparent und gläsern. Meist trat sie in der Fluchtlinie zurück, ließ links dem Alten und rechts dem Neuen den Vortritt oder umgekehrt. Funktionell diente sie als Eingangsachse, als Treppenhaus, als wettergeschützte Passage, ästhetisch als Transformator zwischen den Bereichen, ikonografisch als Botschaft: Achtung, jetzt beginnt etwas Anderes, eine andere Aufgabe, eine andere Epoche. Es galt, „den Dingen durch eine ungewohnte, neue Kombination eine Erscheinung zu geben, die mit den Sehgewohnheiten nicht übereinstimmt,“ schrieb Karljosef Schattner, über lange Jahrzehnte Diözesanbaumeister in Eichstätt. „Trennendes Verbinden“ wäre der angemessene Ausdruck für solche distanzierten Kontaktaufnahmen.

Schattner war es auch, der auf eine Quelle dieser Fugenkunst hinwies, den italienischen Maestro Carlo Scarpa. In den siebziger, achtziger, neunziger Jahren standen in deutschen Hochschulen Studienreisen nach Verona oder Venedig auf der Tagesordnung. Schattner sprach vom „Sezieren“, von Scarpas Arbeit mit dem Skalpell. Er beobachtete, wie bei Scarpa Schichten freigelegt, neue Konstruktionen von der alten Substanz optisch getrennt wurden, ähnlich wie bei einem anatomischen Präparat.

Die Fuge blieb bis in unsere unmittelbare Gegenwart das erste Mittel der Wahl, wenn es um die Kombination eines vorhandenen historischen Gebäudes und eines neu hinzugefügten Traktes ging, wie beim Bachhaus in Eisenach. Die Qualität der Verknüpfung ist natürlich unterschiedlich hoch. Man kann ja auch Bachs Kunst der Fuge schlechter oder besser spielen, nicht jeder ist ein Glenn Gould. Nach wie vor finden sich inszenierte Zusammenstöße des ruinösen Alten mit dem radikal Zeitgenössischen. Bei der Staatlichen Pinakothek in São Paolo, die Paulo Mendes da Rocha aus einem seinerzeit nicht fertig gestellten und zwischendurch ausgebrannten Museumsgebäude gewonnen hat, oder dem zum Museum moderner Kunst umgewandelten Bollwerk Es Baluard in Palma de Mallorca verwandelt solche Kontrastregie den Gang durch die Häuser zu einem dramatischen Parcours.

Holistic turn

Doch konkurrenzlos ist ein solcher Konfrontationskurs nicht mehr. In der zeitgenössischen Architektur melden sich vermehrt Stimmen, die dem unmittelbaren Weiterbauen das Wort reden. Verschmelzung, Weiterführung, Homogenität werden von ihnen höher eingeschätzt als Unterbrechung, Widerspruch, Gegenrede, Disparität. Bestand wird so überformt, dass die Trennlinie, die Baunaht nicht mehr erkennbar bleiben, geschweige denn inszeniert würden wie bei den Fugenkünstlern. Es gehe um Zurückhaltung und nicht darum, dem Originalbestand den eigenen Gestaltungswillen aufzuoktroyieren, schreibt der Münsteraner Architekt Herbert Pfeiffer. Atmosphärische Angleichung werde gewollt, heißt es im Münchner Büro Hild und K. „Immer dieser Ansatz des Zeigens“, klagt der Frankfurter Stefan Forster. Er finde es aufdringlich, wenn Architekten fortwährend den Zeigefinger höben und sagten: Da musst du schauen, da habe ich mir was gedacht, wie all die Dinge gefügt sind und Alt und Neu zusammenkommen.

In Lissabon hielt sich die Stadt an diese Kritik, als das niedergebrannte Altstadtviertel Chiado, vier Hausblöcke insgesamt, wiederaufzubauen war. Wiederherstellung und Neubau sollten sich ergänzen, statt jeweils „als Spezialität autonom behandelt zu werden“, formulierte Alvaro Siza, der als Planer mit dem Wiederaufbau beauftragt wurde. Erhaltene Teile und neu hinzugefügte Häuser wurden nicht auseinander differenziert. Die Selbstverständlichkeit des Quartiers blieb gewahrt. Normalität war das Planungsziel, nicht Originalität. Siza öffnete Wege, Treppen und Durchgänge, reduzierte die Wohnungstiefen, gewann Innenhöfe, kümmerte sich um das, was in den alten Plänen und in der Erinnerung der Menschen noch vorhanden war. Wer heute durch den Chiado wandert, geht durch ein vertrautes Stück Stadt, das weder durch Innovationen um jeden Preis auffällt noch durch dramatische Schnitte zwischen Alt und Neu noch durch aufwendige Rekonstruktionen.

Dabei wird niemand Siza für einen konservativen Architekten halten, der nicht die Register der Moderne beherrschte – ebenso wenig wie seinen jüngeren portugiesischen Kollegen Eduardo Souto de Moura. Doch wenn Souto de Moura ein Kloster restauriert, damit es danach als staatlich geführtes Hotel, als Pousada, genutzt werden kann, gibt es keine spektakulären Eingriffe. Nötige Verbindungselemente ergänzt Souto so, dass sie sich nicht vom alten Bauwerk absetzen. Wie anders löste Schattner solche Treppeneinbauten – etwa in Schloss Hirschberg bei Eichstätt. Schattner wechselte das Material (von Stahlbeton zu Stahl) wie den Formencharakter (von Massiv zu Filigran) in virtuoser Demonstration. Distanz und Differenz statt Nähe und Kontinuität wie bei Souto de Moura.

Den Übergang vom Kontrastbau zum Kontinuitätsbau muss man sich nicht als einen plötzlichen Austausch der Leitbilder vorstellen. Auch heute werden Neu und Alt mit präzise ausgearbeiteten Fugen aneinander geschlossen. Andererseits: Auch früher entstanden um- und weitergebaute Architekturen in allmählichen Übergängen wie beim Rathaus in Bensberg, das Gottfried Böhm in den 1960er Jahren errichtete. Schwer zu sagen, wo das alte Mauerwerk der Burg endet und neues aufgesetzt wurde; wo die Turmhelme noch die alten Verdachungen tragen und wo nicht. Und vor mehr als hundert Jahren, im 19. Jahrhundert, herrschte noch eine ganz andere Unbedenklichkeit im Umgang mit dem lädierten historischen Bestand. Schlösser, Kathedralen, Kaiserpfalzen, Burgen und Römerkastelle wurden im historischen Stil fort und fort geführt. Die Dome von Köln, Meissen, Regensburg, Ulm erhielten erst dann ihre gotischen Türme, damals die Wolkenkratzer des Jahrhunderts, heute integrale Bestandteile der Stadtbilder, die ohne sie nicht zu denken sind.

Erst die Skepsis gegenüber den – fugenlosen – Unbedenklichkeiten des Historismus hat das moderne Distanzierungsverlangen hervorgerufen, hat die großen Grundsatzdebatten verursacht, in deren Verlauf die Denkmalpflege ihre begrifflichen Werkzeuge schärfte. Aber eine freiere Bearbeitung und Fortführung des Vorhandenen setzte sich auch bei Architekten der Reformbewegung fort, also bei Künstlern, die der Moderne zusteuerten. Das Rathaus im schlesischen Löwenberg, das Hans Poelzig 1903-05 umbaute und erweiterte, bildet ein inspiriertes Ganzes aus Alt und Neu. Es fällt schwer zu sagen, wo hört die Gotik auf, wo fängt Poelzig an.

Man hat es also keineswegs mit einer zielstrebigen Entwicklungsrichtung zu tun, die ein für allemal zu einer sauberen Scheidung der Epochen und Techniken geführt hätte. Sondern es handelt sich um Pendelbewegungen, bei denen Werte wie das geschlossene Gesamtbild, die Einheitlichkeit der Wirkung plötzlich wieder im Kurs steigen, nach vielen Jahren, in denen die Sezierer und Analytiker das Sagen hatten. Wie nennen wir diese abermalige Wendung? Ein englischsprachiger Begriff muss her, wenn die Sache ernst genommen werden soll, wie in iconic turn, spatial turn oder linguistic turn. Benennen wir es mit einem Begriff, den es in der alternativen Medizin schon gibt: holistic turn, die Wende zur ganzheitlichen Betrachtung und Erscheinung.

Ein Bild der Einheit

Die gegenwärtige Wendung, wie immer sie genannt sein soll, lässt sich ablesen an einem viel gerühmten Gebäude Peter Zumthors, dem Diözesanmuseum in Köln, jetzt Museum Kolumba genannt. Wo sich heute Zumthors mächtiger Bau erhebt, war für Kölner lange Zeit, vom Kriegsende bis zum Baubeginn, tabuisiertes Gelände. Es beherbergte die Ruinen von St. Kolumba und darunter, wie überall in Köln, karolingische, merowingische, römische Reste. In die Umfassungsmauern der zerstörten Emporenbasilika hatte Gottfried Böhm nach dem Krieg eine kleine Kapelle genestelt, die eine spätgotische Madonna birgt. Eingemauert hatte die Marienfigur die Bomben überstanden. Den Kölnern galt sie wenn nicht als ein Wunder, so doch als ein Symbol des weitergehenden Lebens.

Das kleine Oktogon von St. Kolumba mit dem winzigen, davor gespannten Schiff und die ein paar Jahre später angebaute Beicht- und Sakramentskapelle waren für die Kölner immer ein besonderer Ort. Wer auf der nahen turbulenten Hohen Straße seine Einkäufe erledigt hatte, suchte ihn gerne auf, sei es für ein Gebet, sei es für ein paar Minuten der Stille. Ein kleiner Platz davor setzte die Zäsur zum geschäftigen Leben. Von ihm aus schlüpfte man durch eine seitliche Pforte in die mit Sakralkunst fast überladene Kapelle. Ringsum Brandwände, unvollständige Bebauung, darüber der Dachreiter der Minoritenkirche und die Domtürme. In Köln gab es kaum einen anderen Ort, an dem das Leid des Krieges und die tapfere Improvisation der Nachkriegszeit noch nachvollziehbar waren. Wenn irgendwo das Wort von der Wundpflege Berechtigung hatte, dann hier: Es war eine Wunde im Fleisch der Stadt, wenn auch eine gepflegte Wunde.

Davon ist im Stadtbild nichts mehr übrig geblieben. Zumthors Überbau hat sich Böhms Miniaturkapelle einverleibt wie der Walfisch den Jonas, übrigens ohne sie materiell anzutasten. Auch Jonas kam ja heil davon. Von der früheren Bebauung blieben in der Außenansicht nur als grafische Einträge an den Längsseiten die vermauerten spitzbogigen Fenster der Pfarrkirche und an der Westfassade ein Teil des alten Turmportals. Innen ist die Kapelle vom gleichfalls ummantelten und überdeckelten Grabungsterrain umgeben, darüber liegt das Hauptgeschoss des Museums. Wie das Preisgericht 1997 bei der Vergabe des Ersten Preises an Zumthor mit der Wettbewerbsforderung klar gekommen ist, Böhms Kapellenbau dürfe „in seiner äußeren Schlichtheit und in der reizvollen inneren Lichtwirkung“ nicht beeinträchtigt werden, bleibt sein Geheimnis. Die „äußere Schlichtheit“ ist nicht nur „beeinträchtigt“, sie ist von außen her überhaupt nicht mehr wahrnehmbar! Beeindruckt von den sonstigen auratischen Qualitäten des Zumthor-Projekts sprachen die Juroren von einer „selbstbewussten Besetzung des Ortes“.

Zumthor verkündete das Ende der Wundpflege. Die Wunde soll zuheilen, endlich. Keine Risse mehr, keine Fehlstellen. Allem Fragmentarischen, das den Bauplatz und seine Umgebung bestimmte, hält er ein harmonisierendes Bild der Einheit und des Zusammenhalts entgegen, fast triumphal. Kein Chaos mehr, keine Brüche, nichts Heterogenes, keine nach außen getragenen Konflikte. Der Krieg ging vor mehr als sechzig Jahren zu Ende, vergessen wir ihn. Wo die eigens für diesen Auftrag gebrannten schmalen, lichtgrauen Ziegelsteine auf die geschwärzten alten Hausteine treffen, da tun sie das ohne Aufhebens, ohne rahmendes Profil oder auch nur Rücksprung oder Schattenfuge.

Die Nähe zu suchen statt auf Distanz zu gehen. Homogenität und Kohärenz zu wollen statt Differenz und Alterität. Die Einheit des Ganzen anzustreben und den Verlust an Lesbarkeit der Teile in Kauf zu nehmen. Auf Anpassung, Einvernahme und Analogie zu setzen statt auf Kontrast. Die Synthese anzusteuern statt die Antithese auszuspielen. Wie ist der sich andeutende Programmwechsel zu erklären? Einmal mag es der Wandel der Sehgewohnheiten sein, der auch Stile nach einer gewissen Dauer altern lässt und schließlich zu Fall bringt. Dass Ziele und Strategien der Denkmalpflege gleichfalls stilistischer Veränderung unterworfen sind, ist eine Feststellung, die auch Denkmalhüter nicht mehr kränken wird.

Könnte es aber auch sein, dass Unlust an der analytischen Anstrengung, am dialektischen Spiel, an der permanenten Reflexion beteiligt ist, zumal Anstrengung, Spiel und Reflexion ja immer nur von einigen wenigen aufgebracht wurden, nicht aber von der großen Zahl der Bürger? Könnte es sein, dass ein größeres Maß an Normalität gewünscht ist, weil das Leben Selbstverständlichkeit und nicht einen Ausnahmezustand nach dem anderen benötigt? Walter Benjamin hielt das „beiläufige Bemerken“ statt des „angespannten Aufmerkens“ für die kanonische Wahrnehmungsart von Architektur. Sein Zitat hat heute Konjunktur. Die Menge dessen, was zu bearbeiten, in der Energiebilanz zu verbessern und zu modernisieren ist, hat sich entscheidend vergrößert. Nicht jedes bescheidene Eigenheim aus den 1950er Jahren, nicht jede triviale Bürohausscheibe aus den 60ern verdient, mit dem großen ästhetischen Operationsbesteck auseinander genommen und wieder zusammengesetzt zu werden.

Andererseits: Könnte dieser Wunsch, im Alltag aufgehoben zu sein, auch mit Geschichtsmüdigkeit zu tun haben? Mit dem Wunsch, nicht von den Gedanken an überstandene Katastrophen, an Krieg, an Verluste belästigt zu werden? In derselben Stadt, in der Zumthor die „selbstbewusste Besetzung“ des Kolumba-Grundstücks vornahm, ist vor drei Jahren am Dom ein seit Ende 1943 bestehendes Provisorium entfernt worden. Im Luftkrieg war der Außenpfeiler des Nordturms beschädigt und mit einer Ziegelsteinplombe geflickt worden. Der sichtbare Schaden, bis dahin Monument der Dankbarkeit und Mahnmal des Krieges, wurde nun als herausfordernde Störung im Ensemble empfunden. Heute ist die Flickstelle wieder mit einer gotischen Fassadenstruktur aus Oberkirchner Sandstein überzogen, als sei da nie etwas anderes gewesen; auch das eine Wiederherstellung des Ganzen auf Kosten der widerspenstigen Teile und der Geschichte, die sich mit ihnen verband.

Offensichtlich räumen manche Architekten und Bauherren und sicherlich viele Bürger heute der Kohärenz und Kontinuität einen höheren Stellenwert ein als der Differenz und Diskontinuität. Wer wollte ihnen davon abraten? Es handelt sich ja nicht um Täuschungsmanöver wie bei dem grassierenden Replikenwesen unserer Tage, das in jeder ungeliebten City eine heile Altstadt simulieren möchte, sondern um einen anderen, ebenfalls legitimen Umgang mit der Überlieferung. Das aufgenommene und aufgehobene Vorhandene wirkt auch hier weiter, wenn auch nicht als ablösbare Schicht oder gar als freigestelltes Element. Zumthor beispielsweise, der Gegner jeder Wundpflege, hat in der Baumasse seines Museums den Grundriss der Kolumba-Kirche aufgenommen, bis hin zu dem ästhetisch unbefriedigenden Knick an der südlichen Längsfassade. Das gebändigte Alte gibt, sozusagen grollend aus dem Inneren, Kräfte ab, die zu anderen Lösungen führen, als sie bei einem unabhängigen Neubau gefunden würden.

Wo auch in der pluralistischen Gesellschaft kein vorherrschendes Modell für Lebensentwürfe existiert, wird es auch bei den Umgangsformen in Sachen Historie mehr als ein Modell geben dürfen. Der bedeutende Solitärbau wird eine andere Praxis erfordern als das Alltagsgebäude, bei dem die Textur und die Einfügung in die Nachbarschaft wichtiger sind als die brillante Einzellösung. Jedes Bauindividuum erfordert sowieso eine neue Auseinandersetzung, die jeweils vor Ort entschieden werden muss. Die statistische Angabe, dass heute mehr als die Hälfte des Bauvolumens auf Umbau, Einbau, Ausbau und Weiterbau entfällt, interessiert ja nicht nur das Fach der Architekten und Denkmalpfleger für die Einschätzung ihrer künftigen Berufschancen. Sie enthält auch die Hoffnung, dass das Zeitalter der pauschalen Lösungen zumindest in unseren europäischen Breiten – nein, nicht vorüber ist. Aber vielleicht doch ein wenig an brutaler Durchschlagskraft verlieren könnte. Und dem Dialog zwischen den Zeiten Spielraum gibt, auf welche Weise auch immer er geführt wird.

Der Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den Wolfgang Pehnt im Herbst 2008 in Esslingen und Leipzig gehalten hat. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors, Erstmals veröffentlicht in gekürzter Form am 19.11.2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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