Utopien und ihre Rekonstruktion

Es wäre ein völliges Missverständnis, Rekonstruktionen in Architektur und Städtebau heute als etwas Konservatives zu sehen. In seinem Beitrag zu Thomas Demans Projekt „Nationalgalerie“ 2010 diskutiert Philipp Oswalt den „Wiederaufbau“ des Berliner Schlosses unter den Begriffen Rekonstrukution, Nation und Utopie.

Utopien und ihre Rekonstruktion

Philipp Oswalt

Rekonstruktion

Es wäre ein völliges Missverständnis, Rekonstruktionen in Architektur und Städtebau heute als etwas Konservatives zu sehen. Die heutigen Rekonstruktionsvorhaben sind etwas absolut Modernes. Die Kulturpraxis der Rekonstruierens von Bauwerken gibt es schon fast so lange wie das Bauen selbst. Aber sie ging bis zu Beginn der Moderne immer mit  Aneignung und damit auch einer Aktualisierung einher. Die heute präferierte Form der Rekonstruktion – das photografisch exakte Reproduktion der einstigen äußeren Erscheinung – stellt etwas recht Spezifisches dar, was sich aus der Moderne entwickelt hat und auch erst durch das Aufkommen der technischen Bildmedien möglich geworden ist. Das Projekt des Wiederaufbaus der Fassaden des Berliner Schloss sind hierfür exemplatrisch.

Bei heutiger Rekonstruktion handelt es sich eher um eine photografisches als um ein architektonische Praxis. Als Architekt der Rekonstruktion des Berliner Schlosses fungiert weder Andreas Schlüter (der Hauptarchitekt des Ursprungsgebäudes) noch Franco Stella (der mit der Rekonstruktion im Jahr 2009 beauftragte Architekt), sondern Albrecht Meydenbauer. Der Architekt Meydenbauer hatte ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Möglichkeiten der Photografie für die Dokumentation des baulichen Erbes erforscht. Resultat seiner Arbeit war die Erfindung der Photogammetrie, welche sich inzwischen zu einem sehr wichtigen Arbeitsgebiet entwickelt hat. Meydenbauer entwickelte die photogammetrischen Methoden und die Geräte hierzu und überzeugte den Preußischen Staat, das nationale bauliche Erbe durch photogammetrische Dokumentation zu sichern. 1885 wurde dafür die Preußische  Messbildanstalt eingerichtet, die in den folgenden 35 Jahren 2600 Gebäude in über 20.000 photogammetrischen Aufnahmen dokumentierte. Die photogrammetrischen Aufnahmen – oft im Format 40 cm x 40 cm – mit sehr guter Auflösung haben eine exakt definierte Geometrie, so dass man an Hand der zweidimensionalen Aufnahme die dreidimensionale Geometrie des Gebäudes kalkulieren und rekonstruieren kann. In den Jahren 1916-21 führte Meydenhauer die Dokumentation der Museumsinsel einschließlich des Berliner Schlosses durch, von dessen Fassaden etwa 45 Photos existieren.

Bei dem sogenannten “Wiederaufbau” des Berliner Schlosses werden aus diesen Photografien mit Hilfe von Computerprogrammen dreidimensionale Daten generiert, die dann als physische Objekte realisiert werden. So gesehen ist die Rekonstruktion des Schlosses kein architektonisches Projekt, sondern das Plotten von sechs Photografien. Die Plots werden in Stein ausgeführt und haben eine Dicke von einem Metern.

Auf den Pläne der prämierten Wettbewerbsarbeit von Franco Stella ist dies deutlich erkennbar. Die „historischen Fassaden“ sind zeichnerisch anders dargestellt und wirken wie hineincollagiert in ein anderes Gebäude. Musterschülerhaft setzte Stella die politischen Vorgaben um und füllte das Gebäude hinter den geforderten Fassaden mit den vom Bauherren gewünschten Funktionen. Aber es formuliert keine Lösung für das architektonische Problem, wie aus den sechs geplotteten Fassaden und den Innenräumen ein architektonisches Objekt entstehen kann.

Vor ein uninspiriertes Inneres ohne architektonischen Gedanken oder Idee sind bezugslos die ein Meter tiefen Fassadenplots montiert. Am offenkundigsten wird das Problem im Schlüterhof. Dort gibt es die Fassaden der einst wunderbaren, ausgesprochen dreidimensional-skulptural gestalteten Treppenhäuser. Bei Schlüter waren die Fassaden die äußere Erscheinung der dreidimensionalen Komposition der Treppenhäuser. Bei Stella befinden sich hinter dem äußeren Abbild der historischen Treppenhausfassade willkürlich irgendwelche Funktionsräume wie Lager- und Büroräume, Besprechungsräume und eine Mitarbeitercafeteria.

Das Ganze ist eine mediale Architektur und insofern sehr modern: eine Geburt der Architektur aus der Photografie. Und dieses Bauwerk wird dann vornehmlich wieder zur Erstellung neuer medialer Bilder dienen. Dies könnte an sich ein interessanter Prozess sein, wenn er als eine intellektuelle Herausforderung und künstlerisch-gestalterische Aufgabe verstanden wird, wie wir es im Kontext der Kunst mit Thomas Demand in exzellenter Weise betrachten können. Aber der Vorgang wird nicht als kulturelle Aufgabe verstanden, sondern als technische, die man Ingenieuren überlässt. Es ist die Utopie einer Architektur ohne Architekten.

Der Wettbewerb für das Bauvorhaben war insofern sehr erfolgreich, als eine Person gefunden wurde, die formal gesehen die Position des Architekten bekleidet, aber de facto nicht als Architekt agiert. Insofern war die rechtliche Auseinandersetzung von Kollhoff mit dem Bauherren und Stella für das architektonische Problem symptomatisch. Denn tatsächlich erfüllt Stella nur in maximal reduzierter Form die juristische und repräsentative Aufgaben des Architekten. Als entwurfliche Autorität ist er weitgehend abwesend. Architektur ist auch gar nicht gefragt, eben so wenig eine Handschrift, sondern die Abwesenheit einer Handschrift. Insofern diente der Wettbewerb zum Berliner Schloss dazu, einen Nichtarchitekten zu finden, was in bemerkenswerter Weise gelungen ist.

Das Berliner Schlossprojekt stellt dabei kein Einzelfall dar, sondern nur ein prominentes Beispiel einer umfassenderen Entwicklung. Inzwischen gibt es bei ICOMOS (International Council on Monuments and Sites) ein internationales Kommitee für die digitale Dokumentation des baulich-kulturellen Erbes. Die Objekte werden mit Laser eingescannt. Damit entsteht wie bei der Photografie ein zeitlich eingefrorenes Stück Information . Zugleich bieten, u.a. von chinesischen Unternehmen, das digitale Plotten in Stein an. So ist es inzwischen möglich, in großen Quantitäten frühere Zustände von Bauten automatisiert zu reproduzieren oder zu vervielfältigen.

Utopie

Für die klassische Phase der Moderne in den 1920er Jahren war Utopie die Vision von einer anderen, bessern Zukunft. In Berlin der letzten 20, 30 Jahren entwickelte sich ein anderes Konzept von Utopie. Nunmehr adressierte die Utopie nicht mehr die Zukunft, sondern die Vergangenheit. Es bestand der Wunsch nach einer anderen Vergangenheit. Am liebsten würde man Dinge ungeschehen machen, was angesichts der Deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert eine verständliche Sehnsucht ist. Da dies unmöglich ist, versucht man den Anschein zu erwecken, als hätten sich Dinge nicht ereignet. Anders als bei den Utopien der klassischen Avantgarde geht es nicht darum, dass Alltagsleben und die Lebenspraxis zu verändern. Vielmehr will man bestehende Spuren und Repräsentationen der Vergangenheit auslöschen und durch  neue Repräsentationen ersetzen. Diese neuen Geschichtsbilder und Narrative sollen das Identitätsverständnis der Gesellschaft verändern. Dabei ist die imaginierte andere Vergangenheit fiktional. Insofern handelt es sich durchaus um etwas Neues und auch um etwas Utopisches. Man will das 20. Jahrhundert – die eigentlich prägende Epoche für die Stadt . symbolisch auslöschen und mit dem 21. Jahrhundert direkt ans 19. Jahrhundert anknüpfen. Seit den 1970er Jahren hat diese Haltung die Architekturentwicklung in Berlin mehr und mehr geprägt und sich dabei zunehmend radikalisiert. Das Ganze erinnert an  die Schizophrenie einer gespaltenen Persönlichkeit, die sich vom eigenen Ich mehr und mehr entfernt und versucht, eine künstliche, neue Identität anzunehmen. Berlin ist offenkundig unfähig, zu sich selbst zu finden.

Genauso wenig überzeugt mich allerdings auch die Rekonstruktion und Reanimation der klassischen, heroischen Idee der Utopie. Sie basierte auf der Annahme, dass sich die Widersprüche der Gegenwart – etwa zwischen Stadt und Land, zwischen Freiheit und Gleichheit, zwischen arm und reich – in einer besseren Zukunft  aufheben lassen. Wir haben gelernt, dass die Widersprüche konstituierend für unsere Gesellschaften sind.

Das Utopische hat sich gewandelt. Die relevante Utopie unserer heutigen Gesellschaft ist die Begrenzung des Klimawandels. Es ist eine Utopie, die nicht primär darauf zielt, neue Dinge zu initiieren, sondern die primär darauf zielt, übermäßige Veränderung zu vermeiden. Es ist eine konservative Utopie, die auf Bewahrung statt Veränderung zielt. Aber diese Bewahrung der Zukunft erfordert massive – im Ausmaß utopische – Äderungen in der Gegenwart. Das sehe ich als unsere eigentliche Herausforderung.

Nation

Traditioneller Weise dienten Monumente dazu, Machtverhältnisse darzustellen: Das Schloss, die Kirche, das Gericht. Im alten Berlin vor Beginn der Moderne gab es zwei große Monumente in der Stadt: Das Schloss als Repräsentation des irdischen Herrschers und der christliche Dom als Repräsentation des himmlischen Herrschers. Das war eine sehr klare und verständliche Visualisierung der Machtverhältnisse.

Heute hingegen wird Macht oft bewusst nicht veranschaulicht, gerade wirtschaftliche und politische Macht. Exemplarisch hierfür stehen die Hauptverwaltungen von Daimler Chrysler in Sindelfingen und von Microsoft in Seattle. Bei beiden sind die Gebäudemassen pavillionartig zergliedert und haben fast eine dorfartige Anmutung. Die Architektur bemüht sich, die tatsächlich vorhandene Macht nicht zu Erscheinung zu bringen, sie zu verniedlichen. Die Architektur verfolgt ein Konzept der Tarnung.

Dem gegenüber steht die Monumentalisierung kultureller Einrichtung. Kultur ist unverfänglich, niemand hat etwas gegen Kultur einzuwenden. Und gerade weil Kultur machtlos ist, wird sie heroisiert. Kulturbauten  sind die Monumente der Gegenwart geworden.

Was bedeutet dies nun im Kontext der Berliner Debatte? Das Vorhaben einer Kunsthalle am Humboldthafen möchte der Oberbbrügermeister als zeitgenössischen Monumentalbau á la Guggenheim Bilbao realisieren. Eine Option, welcher am Schlossplatz für die Entscheider nie in Frage kam. Der Schlossplatz ist ein politischer Ort, kein kultureller. Es ist ein Projekt zu der Frage, wie repräsentiere ich Deutschland als Staat, als Nation.

Die Rekonstruktion dient als Mantel, als Fiktion der Nichtsetzung: eine vermeintliche Nichtentscheidung, der Rückgriff auf die Geschichte entlastet die Gegenwart scheinbar vor einer Setzung. Die Rekonstruktion ist angeblich ein technischer Vorgang, kein kultureller. Der Architekt ein Toter (Schlüter) bzw. quasi ein Nichtarchitekt (Stella).

Natürlich ist die Rekonstruktion kein mechanischer Vorgang. Es handelt sich um eine moderne Architektur, sehr, sehr zeitgenössisch. Und es ist eine geschichtspolitische Setzung (und durchaus heroisch), die aber in der Camouflage einer unschuldigen Reparatur, eine mechanischen Reproduktion, einer gestalterischen Nichtentscheidung daherkommt. Für die Politik scheint dies die perfekte Lösung für die von ihr gewünschte Repräsentation des Nationalen heute zu sein.

Erschienen in: Thomas Demand und Udo Kittelmann (Hg.): Nationalgalerie „How German is it“, Suhrkmamp, Berlin 2011, S. 324-332

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