Ist rekonstruieren verboten?

Der Münchener Architekturhistoriker Winfried Nerdinger kritisiert die zeitgenössischen Architekten für ihre (angebliche) Tabuisierung der Rekonstruktion und skizziert die Entwicklung der Thematik in (West-)Deutschland seit 1945.

Kein anderes Bauvorhaben wird derzeit so kontrovers diskutiert wie der Wiederaufbau des Berliner Schlosses, und bei kaum einem anderen architektonischen Thema schlagen die Emotionen höher als bei der Frage, ob es richtig oder falsch, zulässig oder unzulässig sei, eine verlorene Architektur wiederherzustellen. Die hitzige Debatte spaltet sogar den Bund Deutscher Architekten. Während sich die Mitglieder vor einem halben Jahr darauf einigten, »die sinnentleerte Rekonstruktion« entziehe der Geschichte ein eigenständiges Zeugnis der Gegenwart und trage zur »Verarmung und Verfälschung unserer europäischen Stadtkultur bei«, sprach sich der Präsident des BDA, Kaspar Kraemer, für eine Rekonstruktion des Berliner Schlosses aus.

Rationale, nüchterne Argumentation zum Thema Rekonstruktion fällt oft schwer, denn die Begrifflichkeit ist moralisch besetzt – gut oder schlecht, aufrichtig oder unaufrichtig –, es handelt sich fast durchwegs um  Glaubens oder Weltanschauungskämpfe, die zumeist mit Scheuklappen ausgefochten werden denn es fehlt eine Reflexion der »ideologischen Prämissen der vermeintlich objektiven Standpunkte« (H.-W. Kruft 1993). Als Georg Dehio, dessen berühmter Spruch von 1905 »konservieren nicht restaurieren« bis heute wie ein vatikanisches Dogma ständig beschworen wird, den sogenannten »Alterswert« von Baudenkmälern bestimmte, sprach er von der »frommen Aufmerksamkeit«, die man den historischen Gebäuden entgegen bringen müsse. Diese Frömmigkeit schlägt jedem als aggressiver oder verbissener Fundamentalismus entgegen, sobald er sich dem Thema Rekonstruktion nähert. Kaum ist die Frage gestellt, werden bei Architekten, Denkmalpflegern oder Journalisten festgefahrene Begriffe wie durch einen Pawlowschen Reflex ausgelöst: Kopie, Lüge, Kulisse, Falsifikat, Disneyland, Potemkin, Attrappe, Wiedergängertum, Karneval, Maskerade, Scheinarchitektur u.v.a.

Ein Blick in die Geschichte könnte manchmal zur Klärung helfen, denn die Haltung zu Rekonstruktionen ist stets historisch bedingt und immer wieder einem Wandel unterworfen. Zerstörung und Rekonstruktion von Bauten durchziehen die Architekturgeschichte seit der Antike, wobei sich die Vorstellungen von Authentizität und die Ansprüche an die Genauigkeit der Nachbildung immer wieder gravierend veränderten. Im Folgenden soll nur ein Blick auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geworfen werden.

Als 1945 halb Europa in Schutt und Asche lag, wurde mit ungeheurem Engagement um die Frage der Rekonstruktion zerstörter Bauten gerungen. Heute weitgehend vergessen ist, dass sich die überwiegende Mehrheit der Bürgerschaft von Freiburg bis Kiel, von Aachen bis München in Organisationen und Vereinen mit Schriften und Petitionen für eine rekonstruierende Herstellung ihrer Städte einsetzte und dass sie dabei damals von vielen Denkmalpflegern unterstützt wurde. In den meisten Fällen verloren die Bürger diesen Kampf. Die Ausnahmen – Einzelbauwerke wie das Frankfurter Goethehaus, einige Kölner Kirchen oder Ensembles wie in Münster, Donauwörth oder Freudenstadt – sind bekannt. Die Bürgerwünsche konnten sich nicht durchsetzen gegen Städteplaner sowie gegen die Wirtschaftsinteressen an modernisierten Neubauten, und sie wurden getroffen von dem Vorwurf, die schuldhaft von Deutschland selbst herbeigeführte Zerstörung werde nicht akzeptiert, mit Rekonstruktionen solle die Geschichte wieder rückgängig gemacht werden. Der polnische Weg, die Rekonstruktion der Städte zur Wiedergewinnung einer historischen Kontinuität und Identität, schien aus genau diesem Grund im Land der Täter damals nicht begehbar – vielleicht sogar zu Recht, aber das ist wieder eine moralische Frage.

Der ungeheure Bau- und Wirtschaftsboom der 1960er Jahre erledigte scheinbar die Diskussion, der Blick war nun nur noch nach vorne gerichtet. Aber mit dem Zusammenbruch der Wachstumseuphorie während der Ölkrise, dem Vordringen der so genannten Postmoderne und dem parallelen Aufstieg eines allgemeinen Bewusstseins für Fragen der Erhaltung und Denkmalpflege war das Thema Mitte der 1970er Jahre wieder auf dem Tisch. Nun kam es zu vereinzelten Rekonstruktionen, die zumeist durch massives Begehren der Bürger durchgesetzt wurden, wie die Römerzeile in Frankfurt, das Knochenhaueramtshaus in Hildesheim, das Haus zum Fuchs in Mainz, der Goldene Saal im Augsburger Rathaus oder das Leibnizhaus in Hannover.Die Denkmalpflege verhielt sich inzwischen eher ablehnend und die Architektenschaft verdammte fast durchwegs all diese Rekonstruktionen. Die von postmodernen Architekten proklamierte Wiederkehr der Geschichte beschränkte sich zumeist auf historische »Zitate«, die dann auch noch »ironisch« verfremdet wurden, oder auf eine so genannte »kritische Rekonstruktion«, bei der nur historische Baustrukturen oder Umrisse wieder aufgenommen wurden.

Die Situation änderte sich grundlegend mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands 1990. Die NS-Zeit lag nun fast ein halbes Jahrhundert zurück, zwei neue Generationen waren herangewachsen, die der Vorwurf, mit Rekonstruktion solle selbstverschuldeter Verlust ungeschehen gemacht werden, kaum mehr traf. Mit der Wiedervereinigung war eine Epoche abgeschlossen, nun konnte die Frage nach der Wiedergewinnung ehemaliger historischer Zustände, insbesondere angesichts des Verlusts an architektonischer Identität und der »Unwirtlichkeit«, in der sich die meisten deutschen Städte präsentierten, mit gewissem Recht neu gestellt werden. Rekonstruktionen, oder zumindest die Forderungen danach, wurden immer häufiger, weshalb Michael Metschies schon 1992 ironisch treffend schreiben konnte: »Ein Gespenst geht in Deutschland um – das Gespenst der Rekonstruktion. Wie ein schleichendes Gift erobert es die Herzen der Menschen, reißt Bürger und Politiker zu Begeisterungsstürmen hin, statt sie mit Abscheu und Entsetzen zu erfüllen.« Nun setzte die Welle der Rekonstruktionen und Rekonstruktionswünsche ein, die bis heute immer stärker anschwillt: in Berlin Bauakademie und Stadtschloss, in Frankfurt die komplette Altstadt, in Potsdam Schloss und Garnisonkirche, in Leipzig die Paulinerkirche, in Wesel das Rathaus, in Dresden Kosel- und Taschenbergpalais sowie der Neumarkt, in Magdeburg die Ulrichskirche, in Hannover Schloss Herrenhausen, u.v.a. Das Kommandanturgebäude in Berlin, die Frauenkirche in Dresden, die Stadtbibliothek in Frankfurt, ein Baublock an der Maximilianstraße in München oder das Braunschweiger Schloss sind bereits rekonstruiert worden.

Diese Rekonstruktionswelle ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Von der Erlöserkirche und den Bauten am Roten Platz in Moskau über das Schwarzhäupterhaus in Riga bis zum Sophienkloster in Kiew oder der Michaels-Kloster-Kathedrale in Odessa werden besonders in Osteuropa zahlreiche verlorene Bauten wieder hergestellt. Fast durchweg geht es darum, die Eingriffe durch den Stalinismus, die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und die Folgen von Modernisierung oder Sozialisierung rückgängig zu machen. Diese Aktionen sind Zeichen dafür, dass die Bürger auch in der zweiten und dritten Nachfolgegeneration nicht bereit sind, die Zerstörung ihrer Städte einfach hinzunehmen und sie sind Antwort darauf, dass moderne Architekten, Stadtplaner aber auch Denkmalpfleger es in einem halben Jahrhundert nicht geschafft haben, den Bürgern Städte zu geben, die von ihnen akzeptiert und gemocht werden. Als Grund für den ständig zunehmenden Rekonstruktionswunsch nennt Rainer Haubrich »die Enttäuschung vieler Menschen über die Ergebnisse moderner Architektur und Stadtplanung. Wären unsere wiederaufgebauten Innenstädte Wunder an Ästhetik und Sensibilität, würde sich kaum jemand für die einstigen Bauten der Feudalgesellschaft interessieren. Damit korrespondiert die Sehnsucht nach einer Baukunst jenseits der kühlen Rationalität oder oberflächlichen Effekthascherei.« (Die Welt, 30.11.07) Weshalb die paradoxe Situation entsteht, dass russische Bürger in Kaliningrad lieber in einer rekonstruierten »deutschen Stadt« leben möchten als in dem beim Wiederaufbau entstandenen Alptraum aus Plattenbauten.

Die größten Probleme mit dem Thema Rekonstruktion haben moderne Architekten, deren Selbstverständnis seit Entstehung einer neuen Architektursprache auf Gegenwartsbezug und Ablehnung historischer Formen begründet ist. Als beispielsweise die Bauhaus-Hochschule in Dessau an die Überlegungen ging, ob und wie das im Krieg zerstörte Direktorwohnhaus von Walter Gropius wieder hergestellt werden könnte, wurde die Forderung nach einer »Rekonstruktion der Moderne« schnell vom Ruf nach einer »Aktualisierung der Moderne« übertönt. Von 40 angefragten berühmten Architekten – darunter Rem Koolhaas, Peter Eisenman, Oscar Niemeyer, Oswald Mathias Ungers oder Matthias Sauerbruch – plädierte nicht einer für eine Rekonstruktion des Gropiushauses und damit für die Wiederherstellung des Ensembles der Meisterhäuser.

Die Architektenschaft ist bis auf wenige Ausnahmen in der Vorstellung einer geradezu moralischen Pflicht zur zeitgemäßen Selbstdarstellung, zur angeblichen »Ehrlichkeit« beim Bauen befangen. Bezeichnend für diese letztlich rein dogmatisch bestimmte Haltung ist, dass sich Architekten durch die Argumentation von Nichtarchitekten auch nicht im Geringsten beeindrucken lassen. Das Musterbeispiel dafür ist die berühmte Auseinandersetzung um die Rekonstruktion des Goethehauses in Frankfurt. Die Architekten waren nahezu geschlossen gegen, aber ein Großteil der geistigen Elite des Landes von Karl Jaspers über Erich Kästner bisAlbert Schweitzer für die Rekonstruktion. Dass es einen höheren Wert geben kann als eine ohnehin kaum zu definierende »Zeitgemäßheit«, war schon damals ideologisch fixierten Architekten nicht vermittelbar.

Dies gilt ähnlich für die Seite der Denkmalpflege, die sich immer wieder auf Dogmen versteift, anstatt sich selbst als ein in historische Entwicklungen eingebundenes Denksystem zu verstehen, dessen Prämissen vom jeweiligen Kontext abhängig sind und dessen Auffassungen und Theorien sich mit der Zeit und dem Kontext wandeln. Jeder Blick auf die Geschichte der Denkmalpflege und in ihre Manifeste und Prämissen zeigt, dass Leitbegriffe wie »Alterswert« oder »Authentizität« selbst wieder historisch bedingt sind, und deshalb warnte Jörg Träger – vergeblich – 1994: »Es gibt nie ein letztes Wort«. Darüber hinaus sollte die enorme öffentliche Akzeptanz, die die Rekonstruktion der Frauenkirche in Dresden fand, belegen, dass materielle Authentizität und Alterswert eines Baudenkmals ihre Grenzen finden, wenn es darum geht, dass mit der Rekonstruktion die verlorene Einheit eines Ensembles oder ein symbolischer Wert für die kulturelle Identität einer Gemeinschaft zurückgewonnen werden können.

Diese Dimension berechtigter und sinnvoller Rekonstruktion war schon mit der Wiederherstellung des 1902 zusammengestürzten Campanile in Venedig klar geworden. Es gibt kein sinnfälligeres Beispiel für Rekonstruktion unter der Prämisse einer höheren Wertigkeit als die nur durch Wiederherstellung zurückgewonnene Harmonie und kulturell-symbolische Bedeutung des Markusplatzes. Vernünftige Denkmalpfleger haben dies auch immer so gesehen und einen übergeordneten Wert über allen Problemen mit der Rekonstruktion anerkannt. Durch Brand zerstörte Identifikationsobjekte einer Stadt wie der Winterpalast in St. Petersburg, die Waldkirche in Otaniemi, der Brückensteg in Luzern oder das Teatro La Fenice in Venedig sowie kriegszerstörte Symbolbauten wie das Kloster Monte Cassino, der Alcázar in Toledo, das Warschauer Schloss oder die Brücke von Mostar wurden deshalb weitgehend diskussionslos rekonstruiert, da sie eine geradezu lebenswichtige Zeugniskraft für eine Stadt, eine Gemeinschaft oder eine Nation haben, auch wenn sie nicht »authentisch« sind. Dabei sollte immer ausdrücklich bemerkt werden, dass sich die Wiedergewinnung eines Symbolbaus nicht im bloßen Bild erschöpfen kann, und dass deshalb die Vermarktung von Rekonstruktion zu rein kommerziellen Zwecken – wie beim Braunschweiger Schloss oder dem Thurn und Taxis Palais in Frankfurt – nur als Perversion zu bezeichnen ist, die den Symbolwert wieder zerstört.

Abschließend sei ausdrücklich vermerkt, dass dies weder ein Plädoyer für noch gegen Rekonstruktion, sondern eine Argumentation zur Entkrampfung der Diskussion ist. Die Debattanten sollten sich ein Beispiel an Georg Dehio nehmen, der nach der Brandzerstörung der Hamburger Michaeliskirche 1906 selbst seinen erst 1905 formulierten Glaubenssatz über den Haufen warf und die Rekonstruktion befürwortete. Dazu gab er eine Devise aus, die über den ganzen Ideologiestreit um Rekonstruktion gestellt werden sollte: »Seid von Zeit zu Zeit auch einmal tolerant.«

 

Erstmals erschienen in: Aviso, Zeitschrift für Wissenschaft & Kunst in Bayern, 1/2008, http://www.stmwfk.bayern.de/aviso/index.html. Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion Aviso. Winfried Nerdinger arbeitet zur Zeit an einer Publikation zum Thema Rekonstruktion, die voraussichtlich 2009 erscheint.

 

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