Wie können Modernisten rekonstruieren?

Nicht zuletzt als Handreichung zum internationalen Realisierungswettbewerb Wiederaufbau Berliner Schloss 2008 ein Survival-Pack für Modernisten bei Rekonstruktionsaufgaben von Philipp Oswalt (Bildredaktion Laura Rottmann). ///

 

 

 

Rekonstruktionen sind en vogue, in Deutschland und darüber hinaus: Dresden, Berlin Braunschweig, Hannover, Frankfurt, Heidelberg. Ein Alptraum für Modernisten – sollte man meinen. Doch sind die vermeintlichen Modernisten vielleicht die eigentlichen altmodischen Konservativen? Und die Rekonstrukteure die heutige Avantgarde? Letztere durchbrechen die Linearität der Geschichte und machen jeglichen vergangenen Zustand für die Gegenwart verfügbar. Architektur und Stadt wird reproduzierbar, die Historie zum technisch machbaren. Erschließt sich hier die Moderne nicht einfach ein weiteres Territorium und wir sind bislang nur etwas begriffsstutzig? Höchste Zeit also für Modernisten, sich das Thema Rekonstruktion anzueignen. Hierzu neun Vorschläge, die auch als Handreichung für die Teilnehmer des laufenden Wettbewerbs für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses gedacht sind:

Anamorphose: Die Rekonstruktion erfolgt in Hinsicht auf einen bevorzugten Blickpunkt: Von hier aus stellt sich die perfekte Illusion ein. Von abweichende Blickpunkten hingegen löst sich das Bild auf und offenbart seine illusionären Charakter. Somit verknüpft das Anamorphose die Idee der perfekten Rekonstruktion mit der sinnlichen Erfahrbarkeit ihrer Konstruiertheit.


Anamorphotischer Spiegel mit einem Elefanten, Kupferstich um 1625

 

 

      

Rekonstruktion der Kolossalskulptur des Kaisers Konstantin als Anamorphose durch die Berliner Asisi Factory

 

Besiedlung: Die Rekonstruktion von Bauelementen und Gebäuden stellt nicht notweniger Weise den Endpunkt, sondern den Ausgangspunkt der Gestaltung da. Sie können den kulturellen Boden für die Überwucherung mit anderen Elementen bilden.

Vogelnester in Felswand

 

   

Links: Installation von Haus Rucker & Co am Friedericanium in Kassel zur documenta 5; rechts:  Paris: Fouquet’s Barieère des Architekten Eduard Francois, Paris

 

Chinese Blend: Im Zeitalter der Bildbearbeitungssoftware Photoshop ist das Verschmelzen heterogener visueller Elemente zu einem neuen Amalgan alltägliche Routine geworden. Anders als bei der Collage sind die ursprünglichen Einzelteile, die gleichermaßen historischer wie zeitgenössischer Natur sein können, nicht mehr identifzierbar. Aus digitalen Bildbibliotheken werden neue Welten synthetisiert, die kaum mehr Rückschlüsse auf das Originalmaterial erlauben.

3d-Software Replica3d

 

Cinderella Castle Disneyland

 

Decorated shed: Ziel von Rekonstruktionen ist meist die Gestaltung der äußeren Erscheinung von Gebäuden. Es handelt sich dabei um eine spezifische Form von Billboard-Architektur, deren Idee Robert Venturi und Denise Scott Brown in den 1960er Jahren anhand der amerikanischen Konsumarchitekturen der Nachkriegszeit aufzeigten: Das zeichenhafte Außenbild eines Gebäudes ist ein von der Baustruktur quasi autonomes Projekt, welches allein auf seine kommunikative Zeichenfunktion konzipiert ist. Schmerzlos lässt sich dieses mit einer beliebigen Architektur im Inneren kombinieren, die ihren ganz eigenen Gesetzen folgt.

Robert Venturi/ Denise Scott Brown, 1972 (Aus: Learning from Las Vegas)

 

Differenz und Abstraktion: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, schrieb der junge Ludwig Wittgenstein. Nachbildungen unterscheiden sich unvermeidlich vom Original, Verloren gegangenes ist nicht rückholbar. Abgesehen von den fragmentarischen Resten des Verlorenen ist Rekonstruktion nur als die schematische Vereinfachung des Verlorenen möglich, wie uns die Arbeitsweise der Archäologie zeigt. Die Rekonstruktion abstrahiert das Vorbild auf ihr Prinzip, ohne ein fotografisches Abbild des Originalobjekts anzustreben.

Links: Bronze Dreifuss, Rekonstruktion von A. Furtwängler, Rechts: Schaukelplastik von Walter Papst

 

Digital Reproduction: Immer wieder gab es Versuche in der Moderne, den künstlerischen Originalitätszwang und die individuelle Willkür beim Gestalten zu überwinden: der Traum von der Architektur ohne Architekten, die quasi mechanisch entsteht. Die Fortschritte bei den Methoden der Rekonstruktion lassen dieses Ideal erstmals real werden – mit einer Geburt der Architektur aus dem technischen Bild: Fotografien von ehemaligen Bauten werden eingescannt und mit Hilfe von Photogrammetrie in digitale 3D-Modelle übersetzt. CNC-gesteuerte Maschinen generieren aus diesen Daten mittels Fräsen oder 3D-Plotten physische Objekte.

CNC-Fräse

 

Multiple: Rekonstruktion erlaubt die Überwindung der Begrenztheit des Unikats: Sind einmal die für eine Rekonstruktion benötigten Informationen zusammengestellt, kann diese beliebig oft erfolgen. Somit können erfolgreiche Prototypen nach Bedarf reproduziert werden. Dem Urbanismus eröffnen sich neue Möglichkeiten: Die im rasenden Tempo entstehenden Retortenstädte in Asien und im mittleren Osten können von Anfang an mit den im Städtetourismus begehrten ‚Historic Quarters’ realisiert werden.

 

Von dem Goethesche Gartenhaus in Weimar wurde anlässlich der Kulturhauptstadt Weimar 1999 eine Kopie erstellt (rechts), um das Original vor dem Besucheransturm  zu schonen.

 

Recycling: Für die Klassische Avantgarde gehörte das Arbeiten mit Objects Trouvés zu ihren zentralen Methoden. Vorhandenes kulturelles Material wird recycelt und auf Basis von Collagetechniken für Neuschöpfungen genutzt. Dabei erhalten die überkommenen Artefakte neue Bedeutungen.

Max Ernst Collage aus „Une semainede Bonté“ Paris 1934

 

Stille Post (Differenz 2): Was die französische Philosophie des Poststrukturalismus in komplizierten Texten mühselig darlegte, kennt man eigentlich schon von Kindesbeinen an: Reproduktion erzeugt Differenz. Und bereits Charles Darwin nutzte diese Erkenntnis für die Entwicklung seiner Evolutionstheorie.

Varianten der Nektarblätter der Akelei

 

Die hier vorgestellten Strategien sind eine erste Sammlung modernistischen Aneignungen von Rekonstruktionen. Die Redaktion bittet um Zusendung von weiteren Ideen in Text und Bild.

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