Geschichts(ab)riss

Nina Brodowski versteht die Debatte um die Rekonstruktion des Berliner Stadtschloss als symptomatisch für den Umgang mit dem städtebaulichen Erbe der DDR. Der Wunsch nach der Rekonstruktion des Schlosses wird in dem 2005 publizierten Aufsatz nicht nur als repräsentativ für die in der BRD verfolgte Stadtgestaltung analysiert, sondern auch beschrieben als  Bedeutungsträger, der Aufschlussreiches über das Selbstverständnis unserer Gesellschaft bereithält. ///

Es ist bekannt, dass in den neuen Bundesländern nach der Wende in kürzester Zeit Straßennamen verändert, Monumente entfernt und Gebäude und Plätze umstrukturiert wurden. Das symbolische Entfernen der Monumente alter Zeiten, aber auch die in den neunziger Jahren vorgenommenen Veränderung der Straßennamen und Umstrukturierung von Plätzen und Gebäuden in den neuen Bundesländern ist auf die politisch-wirtschaftliche Systemveränderung zurückzuführen. Das Entfernen der kommunistischen Formen und Namen ist dabei ideologisch zu deuten: Der Eingriff in die Lebenswelt muss als Versuch verstanden werden, sich der Semantik des alten Regimes zu entledigen, um so eine einheitliche und normierte Gegenwart zu produzieren, dessen heterogene Vergangenheit zum Schweigen gebracht werden soll.

Verstehen wir mit Roland Barthes diese Debatte als semiologisches Zeichen, dann ist dieses imaginierte Schloss und der Diskurs darum der Signifikant (also die Form), in dem sich spezifische Bedeutungen und Wissensformierungen materialisieren und ablagern [1]. Gerade weil es sich auch um eine massiv sprachliche Verhandlung des Schlossplatzes handelt, kann man – im Sinne Barthes – von einem Mythos sprechen. Es findet eine sekundäre (Be-)Deutung des Zeichens statt, dass seiner Kontingenz beraubt und reduziert nun in die Gegenwart mit neuen Sinngebungen eingeschrieben wird. Das Zeichen bleibt dasselbe, jedoch wird sein Bedeutungszusammenhang im Mythos stillschweigend in eine neue Bedeutung überführt: Es ist die Funktion des Mythos, einem Objekt, einer Praxis oder einem Zeichen eine zusätzliche Weise des Bedeutens hinzuzufügen und sie gleichzeitig genau der Kontingenz ihrer Sinnzusammenhänge zu berauben. 

Erzählung A: Kulturnation

Ein Begriff, der sich in der Debatte um die Rekonstruktion aufdrängt, ist der der „Mitte der Republik“. Für den ehemaligen Wirtschaftsminister Günter Rexrodt geht es in dieser Frage um die Neugestaltung eines Platzes, „der in besonderer Weise die Geschichte unseres Landes repräsentiert“[2]. Die historische Fassade entspricht nicht dem Geschmack einer Generation, sondern „den Erwartungen nachfolgender Generationen“. Das Kanzleramt teilt im Sommer 2000 mit: „Man braucht das Schloss, weil es eine manifeste Sehnsucht nach einem historischen Identifikationspunkt“[3] gibt. Herr Stimmann, Baudirektor und Senatsmitglied sprach in diesem Zusammenhang davon, dass der Schlossplatz zum „Ort der kulturellen und politischen Wiedervereinigung“ umgewandelt werden solle [4]. Diese Äußerungen weisen der Rekonstruktion des Schlosses einen symbolischen Charakter im Vereinigungsprozess zu und stellen den Schlossplatz in einen unmittelbaren Zusammenhang nationaler Identifikation nach der Wiedervereinigung.

Jean-François Lyotard spricht davon, dass das Volk sich in den Erzählungen wieder erkennt, die mit Namen verknüpft sind und das Vorkommnis und den daraus entstehenden Widerstreit vereiteln. Das bedeutet, dass der „innere Frieden“ durch die Erzählung geschlossen wird, die die Gemeinschaft von Eigennamen beglaubigt: es sind „Joyce, Schönberg, Cézanne, Pagani, die den Krieg zwischen den Diskursarten ausfechten“[5]. In unserem Falle handelte es sich eher um die Namen Goethe, Schiller, Friedrich II und Schlüter die gegen Piek, Ulbricht und Honecker „antreten“ – und zwar um den Einzug in unseren Kanon nationaler Kulturalität[6] .Einmal ausgefochten, wird die Geschichte des Kampfs an die Ränder des Diskurses verbannt und sein Resultat in eine geschlossene Erzählung eingereiht. Wie auch bei Roland Barthes verdeckt der Mythos bei Lyotard seinen politischen Charakter in der Neutralisierung der Äußerung. Er dient der anekdotischen Einbettung der Namen in die Geschichte(n), verschleiert aber gerade durch diese scheinbar anekdotische Natur seine aktive Teilhabe an der Reaktualisierung und damit Setzung der Namen und nominalen Bezüge. Die Geschichte, die so am Ende erzählt wird, „das Band, was um die […] Namen gewebt wird“ [7], ergibt schließlich eine Identität. Und um diese in Deutschland einheitlich zu erzeugen, muss die Erzählung die Differenzen tilgen.

Die Erzählung der Nation ist die einer imaginären Gemeinschaft, die in einem permanenten Prozess über Symbole, Institutionen und Diskurse – also auch über architektonische Symbole und Zusammenhänge generiert wird [8]. Eine Nation ist also nicht nur eine sozio-politische Größe, sondern auch ein System kultureller Repräsentation. Die bundesdeutsche Konzentration auf die Stadtstruktur und Stadterscheinung des 19. Jahrhunderts hält Hinweise bereit, in welcher Weise wir Deutschen unsere Nation imaginieren. Zur Konstruktion einer einheitlichen Nation wird sich nicht nur in der deutschen Tradition stets auf das gemeinsame Kulturerbe bezogen. Im Gegensatz zu z.B. Frankreich allerdings – wo die Nation auch eine politische Kategorie darstellt(e) – bezieht sich der deutsche Begriff der Nation ausschließlich auf den einer homogenen Kultur. Die aus der Romantik entstammende Vorstellung der „Kulturnation von Dichtern und Denkern“ leitet sich aus angeblich objektiven Kriterien wie „gemeinsame Herkunft, Sprache, Tradition, Gewohnheiten und Geschichte her“ [9]. Sie bezieht sich auf eine imaginäre Gemeinschaftlichkeit vor den Eintritt in die Staatlichkeit. Dass es in dieser Konzeption nur die eine nationale Geschichte geben kann, versteht sich von selbst. Und so geht auch der oben zitierte Satz Stimmanns folgendermaßen weiter: Es geht hier um „nationale Vergewisserung und um nicht mehr als um die Normalisierung eines Europäischen Stadtzentrums“ [10]. Wobei Normalisierung hier anscheinend bedeutet, die rund 70 Jahre – und die nicht in die kohärente Erzählung integrierbaren Geschehnisse – zwischen Niederlage des 1. Weltkriegs und dem Fall der Mauer aus der Gegenwart zu verbannen.

Die Entscheidung zum Abriss des Palasts der Republik bezeugt, dass die ostdeutsche Geschichte in der Realpolitik immer noch keine Akzeptanz findet: obwohl 98% der Ostberliner sich für den Erhalt des Palast ausgesprochen haben [11]., werden geschichtliche Brüche unserer Nation allein in die lebenden und erinnernden Subjekte eingeschrieben bleiben und die gesamtdeutsche Geschichte einem phantasmagorischen Ideal der Linearität untergeordnet. Bruch und Polyphonie sind mit dieser Konzeption einer einheitlichen Nation nicht vereinbar. Symbole der DDR eignen sich daher wenig bis gar nicht zur Konstruktion einer gemeinsamen Identität. Um diese vorgestellte politische Gemeinschaft – die Nation – zu bewirken, muss genau das, was sie spaltet, die Zeit der DDR, in die Peripherie gedrängt und sich auf das Gemeinsame und positiv Kollektivierbare – also die Zeit vor dem ersten Weltkrieg – bezogen werden. 

Das Kulturkonzept, auf das sich die Wiedererrichtung des Schlosses bezieht, ist ebenfalls signifikant: „Im Mittelpunkt der Überlegungen steht die Verwandlung des Schlossareals in einen Weltort der außereuropäischen Kunst und Kulturen“ [12]. Die Museen werden gemeinsam mit den wissenschaftlichen Sammlungen der Humboldt-Universität und den außereuropäischen Literaturbeständen der Zentral- und Landesbibliothek das Schloss zu einem universalen Forum der Weltneugier und des Weltwissens verbinden. Die magische Formel dazu lautet: „die Welt in der Mitte Berlins“. Diese „Bilder des Schlosses“, bzw. des Humboldt Forums sind künstliche Symbolisierungen, die als Garant für eine humanistische Gesellschaft und traditionelle Stadtidentität fungieren sollen. Wie die geplante AGORA als „Portal zur Welt“ mit „einzigartiger Qualität und Vielfalt an authentischen künstlerischen und kulturhistorischen Zeugnissen zu den Weltzivilisationen Amerikas, Afrikas, Asiens und Ozeaniens ein integratives geistiges Forum für ein europäisches Bekenntnis zur heutigen Welt, zu ihrem Gewordensein und ihren globalen Perspektiven“ [13] – wie sie diese Begegnung ermöglichen will und soll, obgleich ihre Konzeption einer Repräsentationspolitik des 19. Jahrhunderts verhaftet bleibt, ihre Errichtung aber vor allem darauf basiert, den Widerstreit im eigenen Land zu ignorieren, ist nicht nur fragwürdig, sondern ungewiss.

In diesem Sinne ist der hier verhandelte Mythos folgendermaßen zu deuten: das Schloss als Signifikant wird als kulturgeschichtlich relevantes Erbe aus dem Bereich des politischen entrückt – gleichzeitig aber durch diskursive Äußerungen in den Kontext nationaler Identität gestellt und zum Zeichen einer homogenen und linearen Geschichte umfunktioniert. Durch die Ergänzung der AGORA wird das Schloss zusätzlich mit Bedeutung aufgeladen, die in den Mythos einer homogenen und harmonisierten Kultur-, bzw. Öffentlichkeitskonzeption münden. 

 

Erzählung B : Ostdeutsche Identität 

Dass die Konstruktion einer einheitlichen Nation auf diese Art und Weise scheitern muss, liegt auf der Hand – und zwar genau weil ihre Geschichte nicht bruchlos und ihre Beteiligten weder kohärent noch homogen sind, wie dieser Mythos es gerne behaupten möchte. Paradoxerweise ist es gerade die radikale Umgestaltung der Lebensumwelt, die eine Spaltung der Gesellschaft verstärkt und dadurch auch noch einen anderen Mythos in sich birgt.

Ich möchte an dieser Stelle auf Michel de Certeau verweisen, der schreibt: „Das Gehen [in der Stadt] ist der Raum der Äußerung“ [14]. Wenn nach der Wende der Stadtraum radikal neu gestaltet wurde, kann man das als eine brutale Änderung des Vokabulars beschreiben – als ob die eigenen Worte und die Schriftzeichen nicht mehr zusammenpassen und die Geschichten und Vergegenwärtigungen enteignet werden. Stattdessen werden die einem bekannten Orte, die in Form von Bildern die individuelle Geschichte vergegenwärtigen – in die Vergangenheit, bzw. Peripherie, oder gar in den Bereich des nicht mehr Sagbaren verwiesen – und man selbst gleich mit. Auf der Ebene der individuellen Identität werden Symbole entzogen, und man wird gezwungen, neue Formen zu finden, um sich und seine Identität auszudrücken und zu aktualisieren.

Das Verblüffende aber ist, dass gerade dieser brutale Eingriff ein Bewusstsein für diesen Ort und seine Veränderung hervorruft – ja ihn mit einer neuen Bedeutungsqualität auflädt und ihn zur Legende werden lässt: Ich zitiere hier wieder de Certeau: „Das, was sich zeigt, bezeichnet, was nicht mehr ist“ Im Sinne von „Sehen Sie, hier gab es…“, aber es ist nicht mehr zu sehen“ [15].

Da Stadt etwas Öffentliches ist, wird seine bauliche Veränderung mit gesamtgesellschaftlichen Phänomenen in Verbindung gebracht. Die Nicht-Modernität und Nicht-Fortschrittlichkeit des Ostens, sein Vergangen-Sein wird buchstäblich. Wenn in der Nach-Wendezeit die Verwendung von bestimmten Begriffen (Kaufhalle, Konsum, Kollektiv,…) gesellschaftlich sanktioniert wurde und man damit bezeugte, dass man „im Westen noch nicht angekommen war“, dann passierte auf der Ebene der Stadt entsprechendes. Wer noch weiß, was vorher war und wie die Namen vorher lauteten und dies auch äußert, der entstammt der veralteten Zeit und konnte sich an die neue nicht anpassen. Gleichzeitig aber findet eine unmittelbare Anrufung statt. Und zwar eine Anrufung, genau dieses Andere zu sein. Denn durch den Abriss wurde man ja nicht nur seiner gewohnten Sprache und Orientierung beraubt, sondern geradezu gezwungen, sich seines Verworfenseins und seiner Vergangenheit und damit seiner Andersheit im Gegensatz zum Westdeutschen zu erinnern. Denn auch das Fehlen ist existent, ist eine Äußerung. Oder – mit Lyotard gesprochen: „Es gibt keinen Nicht-Satz. Schweigen ist ein Satz“ [16]. Da dieses Fehlen eigentlich ein Resultat hegemoniellen Entfernen und Ersetzens ist, ist dieser „Satz“ eine bestimmte Art von Sprechen, nämlich eine machtvolle Anrufung und Subjektivierung, die ein „ostdeutsches“ Subjekt geradezu erst hervorbringt. 

Der Versuch einer kollektiven Amnesie sozialistischer, aber eben auch deutscher Vergangenheit schafft zwar für kommende Generationen eine einheitliche Lebenswelt, verhärtet in der Gegenwart aber eine Spaltung, die sich auf ganz anderer Ebene manifestiert. Diese unrechtmäßige „Sprachenteignung“ wird zur Basis einer kollektiven Erfahrung, die in dem Ausmaß allein den Ostdeutschen zugänglich bleibt. Diese Erfahrung der Enteignung ist somit konstituiv für eine ostdeutsche Identität – die oft allerdings auf den Mythos einer gemeinsamen DDR-Identität zurückgeführt wird, statt auf den Enteignungsprozess nach der Wende. Die kollektive Erfahrung des hegemoniell bedingten Sprachentzugs ist Voraussetzung für eine posthume DDR-Identität, die vielleicht in der Form vorher nie erlebt wurde. Diese explizite Zensur – die Entmöglichung einer gewohnten Äußerungsform – ist hier also aktiv an der Subjektpositionierung des „Ostdeutschen“ beteiligt.

Auf dieser Seite entsteht ein Mythos, der das „Kollektiv“ der „Ostdeutschen“ anruft: Der Signifikant ist in diesem Fall nicht das Schloss, sondern die Abwesenheit des Palasts, dessen Abriss Folge einer machtvollen Entscheidung gegen den Palast war. Unabhängig davon, dass der Palast während der DDR auch negatives Identifikationsobjekt war, wird er durch die „Zensur“ zu einem positiven transformiert, der die imaginäre Gemeinschaft der Ostdeutschen erst produziert und gleichzeitig die Erinnerungen an die DDR konserviert. Steht auf der einen Seite die Fetischisierung bürgerlicher Öffentlichkeit, steht hier die mögliche Nostalgisierung einer erlebten Vergangenheit.

Gerade das Entfernen des Palasts verhindert eine Bedeutungstransformation des Objekts in eine Einigung. Der Abriss behindert die Überwindung einer Spaltung der Gesellschaft in Ost und West, macht diese Orte geradezu zu Symbolträgern eines Unterschieds, dessen Bestimmung sich aber ins Immaterielle verschiebt und sich niederschlägt in Vorurteilen der nachkommenden Generationen.

Auf beiden Seiten unseres Zeichens stehen also mythische Verklärungen und die Sehnsucht nach authentischer Identität. Dies ist eine Strömung, die in dieser Zeit über die ganzen westlichen Länder verteilt ist. Es wird eine Identität ersehnt, die zusammenhält, einheitlich ist, und die die Bedrohungen der sozialen Erfahrung herausfiltert. Gerade der Wegfall von alten Formen und die Erschütterung der Grenzen in dem wirtschaftlich-dominerten Prozess der Globalisierung verstärkt den Rückzug auf kohärente und stabile Identitätskonzeptionen.

 

Im Westen angekommen!?

Aber kommen wir wieder zurück auf den Ausgangspunkt dieser Erzählung. Wie sieht die Zukunft des Schlossplatzes, bzw. des Palasts nun konkret aus? Abriss, Grüne Wiese, Schlossfassade. Vor allem aber: möglichst keine weitere Diskussion um Erhalt und weitere Zwischennutzung. Es gilt – auch nach der erfolgreichen Zwischennutzung des Palasts – dass der Palast der Republik baldmöglichst abgerissen werden soll. Die Verschlossenheit gegenüber möglichen und vor Ort entwickelten Nutzungsformen verweist darauf, dass man hier über keine neue Mitte der Republik verhandeln möchte und dass man noch immer an einem fertigen, konfliktfreien und damit zu repräsentierenden Ideal einer dann endlich angekommen Gesellschaftsform festhält. 

Dabei liess sich die Zwischennutzung des Palasts selbst ideal mit dem zweiten Selbstbild Berlins vereinbaren. Denn Berlin stellt sich zwar im politischen Diskurs als die Mitte der Republik dar, im städte-wirtschaftlichen Wettbewerb aber konkurriert Berlin natürlich mit anderen Städten und Metropolen. Die internationale Tendenz zum Wettbewerb der Städte untereinander, führt zu einer veränderten Form des Stadtmarketings, in der neben den ökonomischen Resourcen auch das kulturelle Kapital der Stadt betont werden. Stadt – als spezifisches soziales und kulturelles Objekt, in dem wir uns – und Unternehmen sich selbst – über Formen ästhetischer Selbstdarstellung und Inszenierung der Lebensstile wahrnehmen, ist warenförmig geworden. In dem Wettbewerb um die Medienhauptstadt Deutschlands ist gerade die (sub-)kulturelle Szene Berlins, die hauptsächlich im Osten der Stadt zu verorten ist, der große Bonus der Hauptstadt. Sie dient ihr als weicher Standortfaktor, der sie als innovativ und Energie geladen inszeniert. Berlins Unverwechselbarkeit dieser Energie liegt laut Internetpräsentation der Stadt zynischerweise darin begründet: dass „Berlin zum Ort der Begegnung von Ost und West“, zur „Ost-West-Metropole“ wird. Der Berliner Osten ist dabei zugleich Motor und Mythos der „subkulturellen“ Energie Berlins. Das zeigen am besten die Designer-Shirts, CD-Cover und Plattenlabel, die stets den Fernsehturm abbilden, der semantisch an den Alexanderplatz und den Osten Berlins angebunden ist. Nicht zu vergessen, dass die meisten Locations der Berliner Szene im Osten der Stadt zu verorten sind. Dass dieser Umstand aber nicht daher rührt, dass der Osten an sich „subversiv“ und „chic“ ist, Trendsetter und Künstler anzieht, sondern das diese Nutzung ein historisches Produkt ist – dass leere Flächen in einer Stadt überhaupt erst kreatives Potential freisetzen und dessen Verwirklichung ermöglichen – das scheinen wir – in einem System, welches sich auf die funktionelle oder marktwirtschaftliche Nutzung von Immobilien und Raum konzentriert – immer noch nicht verstanden zu haben. In diese Logik ist auch die kurzzeitige „Besetzung“ des Palasts durch BDI und McKinsey im Jahr 2004 einzuordnen. Es handelt sich hierbei entgegen mancher Annahmen nicht um eine Aufwertung sozialistischer Architektur, sondern um die Offenbarung des vollzogenen Siegeszugs des kapitalistischen Systems. Das ganze ist nicht versöhnende Anrede, sondern Artikulation der totalen Gewissheit. Sie bezeugt, dass die einst gefürchtete Semantik sozialistischer Utopien oder Gesellschaftsstrukturen mittlerweile gänzlich neutralisiert und subsumiert ist, dass die ehemalige Rhetorik noch nicht einmal mehr marginalisiert geschweige denn sanktioniert werden muss, dass sie mittlerweile sogar problemlos als Prestige und PR-Objekt in kulturelles Kapital transformiert werden kann. Gegen diese offensichtliche Demonstration kapitalistischer Potenz wirkt die eventuell geplante Verhüllung der Palastruine mit Werbefläche fast schon zurückhaltend – gleichwohl mindestens genauso symbolisch. 

Die Zwischennutzung des Palasts der Republik ist nicht gleichzusetzen mit einer erreichten Gleichwertigkeit von Ost und West. Sie gibt vielmehr Anreiz darüber nachzudenken, wie wir mit real existierenden Herausforderungen in dieser Frage umzugehen haben. Das Überwinden von Spaltungen und urbanen Dissonanzen nicht auf zukünftige Generationen zu verschieben, müsste gerade auf die Iterierbarkeit von städtischen Zeichen setzen: darauf, dass sprachliche Zeichen neue Bedeutung annehmen können. Dies allerdings nur durch eine andauernde Transformation, nicht abrupt. Das Leugnen von Unterschieden verschiebt sie ins Latente und Emotionale, ins Nicht-Benennbare und erschwert seine Aufarbeitung. Zensur führt zur Aufladung und Festschreibung der Bedeutung. Die Neubesetzung des Palasts durch die Zwischennutzung – der Bruch mit der eingeschriebenen Bedeutung des politischen Tabus – ist ein Widerstandspotential gegen die oben beschriebenen Tendenzen der identitätsstiftenden Mythenbildung. Der Bruch mit beiden vorherrschenden Bedeutungsvorgaben und Erzählungen, ohne sie zu verurteilen, ist außerdem Ausgangspunkt für eine neue und gemeinsame (Be)-Deutung der „Republikmitte“.

Die nach der Zwischennutzung entstehende Brache ist sowohl im Hinblick auf Stadtkonzepte als auf das Thema der Wiedervereinigung vielleicht eine Chance, mehr aber noch ein Trauerspiel. In ihr schlummert eine Konnotation des tragisch Möglichen, nämlich dass durch die Pleite der Republik die Kosten zum Neubau des Schlosses auch in Zukunft nicht legitimierbar sind und wir damit zu einer anderen Erzählung von Stadt, Staat und Staatlichkeit gezwungen wären. Wahrscheinlich jedoch wird es sich um ein tragisches Zeichen handeln, denn dass Verhältnis zwischen Humboldt-Forum (öffentliche Nutzer/Museen) und AGORA (private und kommerzielle Nutzer) steht noch zu verhandeln und manche Überlegungen gehen sogar soweit, den ganzen Bau privaten Investoren zu überlassen. Die Brache wäre und wird daher auch ein Sinnbild dafür sein, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Ökonomie die politische Repräsentation dominiert. Und sie wird Sinnbild für den in den letzten Jahren gescheiterten Versuch einer Einigung sein, der nicht zuletzt noch in die Zukunft vertagt werden muss, gerade weil zu sehr auf (wirtschaftliche) Angleichung und Abriss statt auf konzeptionelle und gemeinsame Neugestaltung gesetzt wurde. 

Erstmals erschienen in: Fun Palace 200X. Der Berliner Schlossplatz. Abriss, Neubau oder grüne Wiese? Hg. Philipp Misselwitz, Hans Ulrich Obrist, Philipp Oswalt, Berlin, 2005

Anmerkungen:

1 Vergl: Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags.
2 Günter Rexrodt (FDP), zit. nach spiegel-online, 07.06.2002
3 Kanzleramt, zit. Nach die Zeit 35/2000
4 Dr. Stimmann (Baudirektor), zit. nach Die Zeit 35/2000
5 Lyotard, Jean-François (1989): Der Widerstreit,S.251.
6 Als Begründung für die Verwendung dieses Neologismus möchte ich auf Roland Barthes verweisen, der deren Gebrauch als relevant vertritt, um deutlich zu machen, dass es sich stets um kontingente Sinnvorstellungen handelt. Vergl.: Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags, S. 101
7 ebd., S. 257.
8 Bronfen, Elisabeth, u.a. (1997): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, S. 2
9 Geier, Andreas (1997): Hegemonie der Nation. Die gesellschaftliche Bedeutung des ideologischen Systems, S.65.
10 Dr. Stimmann, zit. nach Die Zeit 35/2000
11 Vergl. INFAS-Umfrage 1993 zum Erhalt des Palast der Republik, zit. nach Christoph Dieckmann in die Zeit 47/2003.
12 Selbstdarstellung des Fördervereins Berliner Schloss e.V.
13 Selbstdarstellung des Fördervereins Berliner Schloss e.V.
14 de Certau, Michel: Die Kunst des Handelns: Gehen in der Stadt, in: Hörning, Karl
H./Winter, Rainer (Hg.) (1999): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, S.273.
15 ebd., S. 283.
16 Lyotard, Jean-François (1989): Der Widerstreit, S.11

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