Sehnsucht nach Geschichte

In diesem Vortrag bei der Stiftung Baukultur in Potsdam am 11. Juli 2008 geht der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt den Ursachen der heutigen „Altgier“ in der gegenwärtigen Architektur und Städtebau nach und versucht hierzu, eine zeitgenössische, aber der Geschichte verpflichtete Alternative aufzuzeigen.///


Man möchte glauben, wir lebten in Zeiten, die von leidenschaftlicher Neigung zur Geschichte erfüllt wären. Von „Altgier“ statt „Neugier“ hat Nietzsche gesprochen (1). Verdiente Historiker werden von den Verlagen bestürmt, sich auf populäre, auflagenträchtige Darstellungen einzulassen. In der Vereinsszene haben sich neben Schützengesellschaften oder Freiwilliger Feuerwehr Gruppen herausgebildet, die Wikinger, Kreuzritter oder Indianerstämme nachspielen und sich – wo ein höherer Grad an historischer Treue erstrebt ist – „re-enactors“ nennen, „Wiederaufführer“. Einem Zeitungsbericht entnehme ich, dass bei ihnen „Authentizität“ als hohes Gut gilt, aber wegen der schwierigen Aussprache des Begriffs kurz das „A-Wort“ genannt wird (2). Und kaum vergeht ein Fernsehabend, ohne dass Dokumentationen über die jüngst vermutete Lage von Troja unterrichteten oder über pazifische Seeschlachten zwischen Amerikanern und Japanern im letzten Weltkrieg.
„Man sammelt wieder Altes und nur Altes, statt der neuen Mode mit neuen Gegenständen kam die neueste mit alten Gegenständen“, schrieb Adalbert Stifter 1857 im Nachsommer (3). Aber das ist nicht unsere Situation, sondern es war die des Historismus im 19. Jahrhundert. Im gegenwärtigen Meinungspluralismus herrscht die „neue Mode mit neuen Gegenständen“ (das wären die spektakulären Erfindungen der Stararchitekten, die sogenannten signature buildings, die dem Bedürfnis nach Markenbranding Genüge tun), und es herrscht gleichzeitig die „Mode mit alten Gegenständen“. Dazwischen liegt natürlich die unermesslich große Menge des banal Alltäglichen, das weder durch Novität noch durch Erinnerungsversuche noch durch Qualität auf sich aufmerksam macht. Die Frage ist, ob und wie die „Mode mit neuen Gegenständen“ und die „Mode mit alten Gegenständen“ zusammenhängen. In der Argumentation der Rekonstruktionsfreunde spielt bei architektonischen wie bei städtebaulichen Themen jedenfalls immer der Hinweis mit, die Moderne habe ihre Chance reichlich erhalten, habe sie auch noch in weiten Bereichen der Städte. Nun sei der Augenblick gekommen, der Historie wenigstens in den ehemals alten Innenstädten ihre Rechte einzuräumen.
Welche guten Gründe kann es für die „re-enactors“, die „Wiederaufführer“ geben? Ein Grund wäre die lehrhafte Veranschaulichung dessen, wie es gewesen ist. Im großen Maßstab ist diese Praxis mit ihren illustrativen oder pädagogischen Zwecken seit den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts angewendet worden. Diese zukunftsträchtigen Musterschauen besaßen immer ein historisierendes Anhängsel. Nach der Besichtigung der aktuellsten Sensationen spazierte man durch Oud-Antwerpen, Old Chicago, Vieux Paris, La Belgique Joyeuse, Vieux Québec, je nachdem, wo die Weltausstellungen stattfanden, und genoss die optische Illusion, auch wenn sie nur aus Stuck und Leinwand bestand. Es waren temporäre Nachbildungen von Bauten, deren Originale oft gerade ein paar Kilometer weiter abgerissen wurden. Ein Zusammenhang zwischen radikaler Modernisierung und nostalgischer Reproduktion existierte schon damals.
Höheren Ansprüchen an archäologischer Zuverlässigkeit genügten und genügen die rekonstruierten Wehranlagen am Limes, die Pfahlbausiedlungen am Bodensee oder die römische Legionärsstadt in Xanten. Manche Rekonstruktionen der 1970er, 80er und 90er Jahre gehören zu diesen anspruchsvolleren Nachbildungen – das Knochenhaueramtshaus in Hildesheim, errichtet in herkömmlicher Zimmermannstechnik, die Alte Waage in Braunschweig (aber gewiss nicht das Braunschweiger Schloss), die Frauenkirche in Dresden. Anders als bei vielen Wiederaufbauten der ersten Nachkriegsjahre, die den Denkmälerbestand interpretierten statt ihn wörtlich zu wiederholen, war bei diesen Beispielen der zweiten Rekonstruktionswelle Treue zum vormaligen Raum- und Erscheinungsbild das Ziel. Ob das Berliner und das Potsdamer Schloss in diese Kategorie fallen werden, bleibt zu bezweifeln. Was hier zählt, ist die Vedute, der sofort einleuchtende Augeneindruck, nicht der im Durchschreiten zu erlebende Bauorganismus.
Ich glaube auch nicht, dass der „kognitive Wert“, die anschauliche Illustration dessen, wie es gewesen ist, ein zentrales Motiv des Rekonstruktionswesens bildet. Sonst würde man vom Berliner Schloss nicht oder nicht nur die glanzvollen Barockfronten wieder herbeizaubern wollen, sondern auch die historisch viel aufschlussreichere Ostseite an der Spree mit ihren spätmittelalterlichen und Renaissance-Teilen. Auch sie, der Kapellenturm, der Grüne Hut, der Herzogin-Bau, der Apothekenflügel, standen schwer beschädigt noch bis zu Walter Ulbrichts Vandalen-Tat, der Sprengung des Schlosses. Über das schwierige Verhältnis von Stadt und Stadtherrschaft hätten sie mehr zu sagen als die drei so viel repräsentativeren, barocken Seiten. Aber ich habe nur selten jemanden gehört, der auch sie zurückholen wollte.
Nie darf man vergessen, dass der posthum produzierte Schein nur ein blasses Abziehbild der historischen Realität ist. Schon über die anderen sinnlichen Qualitäten dieser vergangenen Welten erfahren wir nichts: von welchen Geräuschen sie widerhallten, wie es in ihnen gerochen oder viel öfter wohl gestunken hat, mit welchen Ereignissen die Straßen, Plätze und Räume gefüllt waren, wie sie benutzt, bewohnt, belebt wurden, in welchen zeitlichen Rhythmen – Tag, Monat, Jahr, Festtage, Katastrophenzeiten – diese Welt jeweils erwachte und wieder in Ruhe versank. Alles, was nachträglich geliefert werden kann, ist eine Abstraktion ausschließlich für die Sehnerven, eine blasse Teilwahrheit, ein Abziehbild. Eher als der historische Erkenntniswert scheinen mir drei andere Motive zugunsten dieser Retrowelt wirksam, der Wunsch nach malerischer Schönheit, das Verlangen nach Identität und der Verdruss über die lebensweltlichen Zumutungen der Moderne, die immer auch eine Moderne der gravierenden Verluste gewesen ist. Als Architekturmoderne wird sie deshalb für alles Ungenügen der Gesamtmoderne verantwortlich gemacht.
Die Vielgestaltigkeit und Kleinteiligkeit der alten Stadt, ihr pittoresker Reiz, aber gelegentlich auch der Ausbruch in die autoritative Gebärde der Machtinstanzen, der Stadt- und der Landesöffentlichkeit, der Kirchen, Schlösser, Rathäuser, Tuchhallen, Speichergebäude, Torhäuser – das können die zeitgenössische Architektur und der zeitgenössische Städtebau schon deshalb nicht bieten, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse in ganz andere und abstraktere Größenordnungen hineingewachsen sind. Im 18. Jahrhundert genügte in Berlin noch ein einziges Behördenhaus an der Lindenstraße – allerdings auch, weil viele Verwaltungsstellen noch im Stadtschloss untergebracht waren. Alles drängt heute aufs große Maß. Jeder von uns, der Massenhaftigkeit und Globalismus beklagt, produziert sie zugleich in seiner Eigenschaft als Konsument, als Verkehrsteilnehmer, als verwalteter Staatsbürger, als Tourist oder als Auftraggeber oder Bauherr, der nicht bereit ist, den Zoll für verloren gegangene Schönheit zu zahlen – nämlich mit einem individuellem, anspruchsvollem Entwurf, mit dem Engagement, das Schönheit auch vom Bauherrn verlangt, und mit den zusätzlichen Kosten, die sie möglicherweise erfordert.
Das Verlangen nach Identität, nach Unverwechselbarkeit, nach Selbstsein liegt tief in jedem Einzelnen, in jedem als Ich und in jedem als Teilhaber seiner Lebenswelt. Aber Unverwechselbarkeit bieten die Groß- und Megastädte dieser Erde nicht mehr, abgesehen von den Restbeständen ihrer historischen Kerne, die nur noch einen winzigen Prozentsatz jeder städtischen Agglomeration ausmachen. Metropolen der Neuen Welt kennen auch diese imagebildenden Reste des Alten oft nicht mehr. Die dichtgedrängten Hochhausscheiben vor der Grundstücksbrache – stehen sie in Shanghai, Hongkong oder São Paolo? Der Kosmopolitismus der Moderne, der ja einst ihr Programm war, ist für viele außer dem Jetset zum Horror geworden. Und selbst die flottierenden Wanderarbeiter des Kapitals treibt ein Drang zum charakterischen Ort, wenn sie ihren Ferien- oder Alterssitz zu wählen haben. Alltags Manhattan, feiertags Cape Cod, werktags die Frankfurter Börse, nach der Pensionierung Miltenberg oder Büdingen.
Die Verunsicherungen durch den Veränderungsdruck, dem wir allenthalben ausgesetzt sind, stellen einen weiteren Grund für die Flucht in die Geschichte dar. Von globalen Entwicklungen sind wir abhängig, ohne sie über unsere politischen Vertretungen steuern zu können. Konjunkturen wandern, wie sie wollen. Arbeitslöhne, Warenkosten und Energiepreise entwickeln sich aufgrund von Faktoren, die anderswo auftreten. Umweltveränderungen lassen sich mit lokaler, regionaler oder auch nationaler Politik allenfalls beeinflussen, nicht aber grundlegend ändern. In immer kürzeren Abständen muss das eigene Verhalten justiert werden. Dagegen werden die Altbestände organisiert. Nur: Hier ist rückwärtsgewandte Architektur erst recht überfordert. Die historisierenden Kulissen am Wegrand, diese hilflosen Geborgenheitsversprechen und anrührenden „Verortungsgesten“ – wie ein Kollege sie genannt hat – erlösen nicht von den Zumutungen der Zeit, sie verstellen sie allenfalls. Danach treten die kurzfristig verdrängten Überforderungen umso unerbittlicher wieder hervor.
Aus diesen verschiedenen, untereinander zusammenhängenden Gründen erklärt sich der Rückgriff auf die alten Bau- und Stadtpläne. Doch fast immer gelingt dieser Versuch nur dann, und auch nur partiell, sofern er sich am realen, noch vorhandenen Denkmälerbestand abarbeitet. Schon heute sehen sich die rekonstruierten Alt- und Neumärkte verzweifelt ähnlich. Wenn allerorten die emsigen Vereine fürs Historische Stadtbild und Gesellschaften Pro Altstadt ihren Willen durchgesetzt haben, werden sie es erst recht tun.
Das liegt nicht daran, dass die Retrokünstler niedersächsisches von fränkischem Fachwerk nicht zu unterscheiden wüssten oder sächsische von bayerischen Putzfassaden, sondern es liegt an den Bedingungen des Second Life. Alle diese wieder herbei beschworenen Quartiere entstehen zur gleichen Zeit. Sie alle werden mit demselben Anspruch auf Makellosigkeit hergestellt. Bei keinem von ihnen findet sich eine Spur der vergangenen Zeit, eine Verletzung, ein Riss, der einen Blick auf die Realitäten des Einst zuließe. Keines von ihnen ist noch mit dem Leben erfüllt, für das die Originale gebaut worden waren – und das war immer ein gemischtes, turbulentes, keineswegs funktional geordnetes Leben. Heute präsentiert sich in prosperierenden Städten alles, was als alt notiert ist, neu wie am ersten Tage. Daher schlussfolgern Bürger und Tourist paradoxerweise: Nur das, was makellos erscheint, ist alt, sonst wäre es ja renoviert worden.
So fällt auf alles, auch auf die tatsäch¬lich überlieferten, noch erhaltenen Geschichtszeugnisse das Zwielicht des Zwei¬fels. In dieser Retrowelt ist nichts mehr, was es scheint. „Mitten unter die ehrliche Wirklich¬keit Masken und Ge¬spenster sich mischen zu sehen, erfüllt mit Grauen“, meinte Georg Dehio, den ein Bürger des 21. Jahrhunderts natürlich nicht zitieren darf, ohne als hoffnungslos rückständig zu gelten. Otto Bartning – darf man ihn wenigstens noch zitieren? – pointierte: Je echter die Rekonstruktionen wirkten, desto schlimmer. Er meinte damit: Von der Neuerfindung nicht mehr vorhande¬ner Denk¬mäler geht eine latente Gefahr für noch vorhandene Denkmä¬ler aus. Unter Masken wird auch der, der sich nicht ver¬kleidet, zur Maske. In unseren Tagen dagegen halten manche Bauhistoriker die Gefahr, das Original mit seinem „historischen Bild“ zu verwechseln, keineswegs mehr für ein Unglück (4).
Das Paradoxe ist: Während die Gesellschaft die La¬terna Magica ihrer Reproduktionen aufpoliert, verkommen ander¬wärts die real überlieferten Bauzeugnisse. Die Innenstädte werden von Bauzeugnissen der fünfziger bis siebziger Jahre gereinigt. Für die Rettung der Altstadt von Quedlinburg weiß keiner rechten Rat. In Brandenburg verfallen Dutzende gefährdeter Dorfkirchen. In der gesamten Bundesrepublik sind hunderte und aberhunderte Sakralbauten beider Amtskirchen aus dem 19. und 20. Jahrhundert in Gefahr – darunter solche von den großen Architekten der Epoche. Die Mittel sind be¬grenzt, heute mehr denn je. Was in die rekonstruierende Imageproduktion geht, kann nicht in legitime Rettungsaktionen gehen, auch wenn die jeweiligen Subventionstöpfe andere sind. Letzten Endes sind es immer wir Steuerzahler, die zahlen.
Und eine andere Gefahr geht vom derzeit praktizierten Replikenwesen aus. Das eine, die Rekonstruktion, ist die Kehrseite eines anderen, der Dekonstruktion. Was dem Altern und der Vergänglichkeit enthoben ist, steht jenseits der Zeit, ist gespeichert, kann abgerufen werden. Was kommt es also auf sein physisches Ende an? Reißt es ab, es ist ja wiederholbar. Die Produkte der Vergangenheit werden als ein Vorrat je¬derzeit wieder aktualisierbarer Bil¬der betrachtet, der Realzeit ent¬hoben, auf den digitalen Halden und in den Archiven ge¬spei¬chert und unserer freien Verfügung übergeben, im Abräumen wie im Wiedererrichten.
Reale, am Ort erhaltene Zeugnisse der Geschichte dagegen vermitteln eine Erfahrung, die man existentiell nennen darf. Diese geschichteten oder gewölbten Steine, diese dem Verfall entkommenen Fachwerkgerüste, zählen, wo sie sind und wie sie sind, mehr Jahre als wir. Sie haben mehr gesehen als unsere eigenen Augen. Sie konfrontieren uns mit dem, was älter ist als wir selbst. Sie geben uns ein Gefühl von Dauer, das keine neu erfundene Geschichtskulisse liefern kann. Sie vermitteln den Trost, dass es Dinge gibt, die länger bleiben, als es uns vergönnt ist – den Trost oder die Einsicht in die Hinfälligkeit des eigenen Lebens, auf jeden Fall eine meta-physische Erfahrung. Diesen Trost spenden sie nur so lange, wie ihre authentische Substanz nicht durch die grassierende Faksimile-Kultur entwertet worden ist – nur so lange, wie die Unwiederhol¬barkeit von geschichtlich Gewordenem noch eine Erfahrung ist, nur so lange, wie das „A-Wort“ Authentizität noch gilt.
Historisierende Fiktionalisierung nimmt nicht die Moderne zurück. Sie ist selbst Ausdruck der Modernisierung, in der Willkür ihrer Wahlakte und Vorlieben, in dem Herrengestus, mit dem beliebige Bauzeugen über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg zurückkommandiert werden, in der Machbarkeit von allem und jedem. Ein Blick in die schönen alten Stichwerke, in Braun-Hogenberg oder Matthäus Merian, und die Begehrlichkeiten sind geweckt. Der pfalzgräfliche Heidelberger Schlossgarten in der malerischen Gestalt, wie er sich heute noch darbietet, hat die deutsche Romantik inspiriert, hat Hölderlin und Goethe gesehen. Aber was hilft diese Erinnerung, wenn ein reicher Mäzen – vergleichbar dem Mäzen des Potsdamer Schlosses – bei Merian eine Abbildung des Hortus Palatinus aus dem frühen 17. Jahrhundert entdeckt hat und dessen Neuherstellung betreibt?
Und wenn schon das Berliner Schloss, warum nicht auch den riesigen Münzturm, nur etwas besser fundamentiert als bei Schlüter, unter dessen Händen er im Schlick der Spree versank, oder das reizende Schlösschen Montrepos am Spreeknie oder Schlüters anmutiges Landhaus Kamecke? Es sollte schon einmal, noch in DDR-Zeiten, an anderer Stelle, an der Friedrichstraße rekonstruiert werden, als Empfangspavillon für einen Hotelneubau. An demselben Ort wie einst müssen diese Wiedergänger ja nicht mehr stehen, das haben wir uns längst abgewöhnt.
Gern wird von Rekonstruktionsfreunden das Argument benutzt, in der Architektur sei nicht der physische Körper des Bauwerks das Original, sondern sein Plan, wie die Partitur in der Musik. So könne man auch Bauwerke neu aufführen wie ein Konzertstück und sie beiseite legen bis zur nächsten Aufführung, oder gar das seinerzeit nie Realisierte nachträglich realisieren. Aber man täusche sich nicht: Es kehren nur die Bilder wieder, nicht die Sachen selbst. Es sind Reproduktionen ohne durchlebte Existenz. Wenn die Gesellschaft diese Fiktionalisierung wirk¬lich will, sollte sie zumindest deutlich sagen, wo die Grenzen gezogen sein sollen, bis zu denen sie in der Entmaterialisierung der Geschichtsbelege gehen will. Oder ist alles erlaubt, was gefällt?
Zweifellos würde sich bei entsprechender Fragestellung eine große Mehrheit der Bevölkerung für fast jede Wieder-Holung des Vergangenen aussprechen. Diese Ausflüge ins Vergangenheitsland muss man ernst nehmen. Die Mehrheit muss nicht Recht haben, nur weil sie die Mehrheit ist; Kunstfragen sind nicht abstimmungsfähig. Aber gewiss gibt es Gründe, auch in der Architektur manchmal nicht alles zu wollen, was eine fachkundige Minderheit der Mehrheit empfiehlt. Darüber darf das Gespräch nicht abbrechen. Was hat das gegenwärtige Bauen verweigert, das einer Vielzahl von Menschen unentbehrlich scheint, und wie kann die zeitgenössische Architektur deren Ansprüche erfüllen, ohne ihre eigenen Qualitätskriterien in Frage zu stellen?
Von Fall zu Fall war die Moderne sehr wohl in der Lage, die Erwartungen an ein die Sinne befriedigendes, erinnerungsfähiges Bauen zu erfüllen. Über demselben Parlament, das sich für die Rückkehr des Hohenzollernschlosses entschieden hat, wölbt sich die neue Kuppel Norman Fosters, die nach wie vor täglich Hundertschaften von Besuchern anzieht. Jørn Utzons Oper in Sydney hat es zum Nationalsymbol eines ganzen Kontinents geschafft. Günter Behnischs und Frei Ottos Zelte im Münchner Olympiapark haben sich so sehr dem kollektiven Bewusstsein eingeprägt, dass sie bisher jedem Attentatsversuch durch Developer, Stadtrat und sogar durch die eigenen Architekten widerstanden haben. Solche Beispiele haben durchaus allgemein akzeptierte Zeichen gesetzt. Sie haben Typologien weitergeführt – etwa die der Kuppel – , vorhandene Ortslagen akzentuiert wie das Brachland eines ehemaligen Straßenbahndepots in Sydney oder neue geschaffen wie die aus Trümmern modellierte Stadtlandschaft am Oberwiesenfeld. Nicht minder wichtig sind die vielen gelungenen Interventionen, die das Vorhandene aufnehmen, ohne das Neue zu verleugnen, in wechselnden Graden der Selbstbehauptung oder Einordnung: Kleine Eingriffe, mit großem Takt vorgenommen. Häuser, die Beziehungen aufspüren oder neue begründen. Bauten, in denen die Nachbarschaft historischer Architektur verarbeitet wird. Gebäude, die mit der Erinnerung ans Vergangene ein dialektisches Spiel treiben.
In den meisten Epochen der Baugeschichte suchten die Künstler Tradition und Neuerung miteinander zu vermitteln, bei wechselnden Anteilen beider Pole. Viele bedeutende Künstler haben sich für ein funktionierendes Verhältnis zwischen Innovation und Tradition ausgesprochen. Was der britische Architekt und Theoretiker William R. Lethaby am Ende des 19. Jahrhunderts vermutete und mit einem Zitat des Malers Joshua Reynolds belegte, war die Überzeugung vieler: „Erfindung ist genau genommen wenig mehr als die neue Kombination jener Bilder, die zuvor im Gedächtnis gespeichert worden sind: Nichts kann von nichts kommen.“(5)  Brüche in der Geschichte sind selten.
Hat die heroische Moderne wirklich den radikalen Bruch mit der Geschichte bedeutet, von dem ihre Protagonisten manchmal und ihre Gegner immer sprachen? Gewiss war der Historismus des 19. Jahrhunderts ein Feindbild der Modernen. Aber Vorbilder aus der Geschichte haben auch sie herangezogen. Meist waren sie nicht aus den jüngeren Phasen historisch überschaubarer Baukunst genommen, sondern aus älteren oder damals exotisch wirkenden Kulturen, die den Europäern alternative Lernerfahrungen versprachen wie die Lehmarchitektur Schwarzafrikas oder der Pueblo-Indianer, die wohlorganisierten Labyrinthe islamischer Kashbahs, die Terrassenarchitektur der Azteken. Wo Meister ihres Faches am Werke waren, ging es um Verarbeitung, Umformung, Neubildung, nicht um Zitate des einstmals Gewesenen.
Vorträge, wie sie Le Corbusier, Mies van der Rohe oder Erich Mendelsohn gehalten haben, stecken voller Entdeckungen aus Vergangenheit und Vorvergangenheit, die diese Architekten für die Gegenwart nutzten. Mies hat sich für germanische Haufendörfer interessiert. Hannes Meyer, der radikale Funktionalist, stellte sämtliche Grundrisse Palladios auf dreißig Normenblättern in einheitlichem Maßstab dar (6). Hans Poelzig, der zumindest in Phasen seines Lebens als Avantgardist galt, bekannte, er hasse die Historie, soweit sie ihn einzwängen wolle, aber er liebe die Vergangenheit, soweit sie künstlerische Instinkte in ihm wecke (7). Oft waren Gewöhnungsprozesse zu absolvieren, bis man auch in einem Bau Mies van der Rohes ein verwandeltes Urbild, das des antiken Tempels, erkannte – plus der zusätzlichen Komplexität, die neue Materialien und Konstruktionsweisen beitrugen. Die Qualitätsmoderne hat sehr wohl gewusst, was sie an der Geschichte hatte. Nur die Spekulantenmoderne hat sich für nichts als den kommerziellen Profit interessiert.
Warum sollte die Geschichte nicht auch weiterhin als Lehrmeister dienen, als Anstoß zur Bildung wiedererkennbarer Orte? Freilich nicht als Asservatenkammer, aus der man sich von Fall zu Fall bedient – wie es die Postmoderne zu tun liebte und auf ihre Weise die Fraktion der Rekonstrukteure. Es werden Prozesse mit offenem Ausgang sein müssen, bei denen die Ansprüche jeweils neu verhandelt werden: einerseits der Ausdruck gegenwärtigen Lebensgefühls, aktueller Bauprogramme, zeitgenössischer Techniken, Konzepten der Nachhaltigkeit; andererseits die Verträglichkeit mit dem, was da ist, an Baubestand, an erinnerter Vergangenheit, wie sie im kollektiven Gedächtnis und, konkreter, im Muster des Stadtplans niedergelegt sind. Der Stadtplan ist in der Regel ein guter Begleiter aus dem Einst ins Demnächst. Er enthält die zuverlässigsten Informationen über das, was war, und erlaubt Freiheiten in der Überbauung.
Kompromiss darf nicht das Ergebnis dieser Verhandlungen sein. In manchen Situationen bedarf es der neuen Zeichen, auch wenn sie Bruch mit dem Vorhandenen bedeuten. Denn Identität knüpft sich nicht nur an taktvolles Weiterspinnen des Gegebenen, sondern auch an den neu gewagten Einsatz. Nicht nur die grandiose Grand Opéra des Charles Garnier mit ihrer barocken Allure trug zum unverlierbaren Stadtbild von Paris bei, sondern ebenso die damals unerhörte Verletzung aller städtebaulichen Traditionen, der Eiffelturm. Auch für Utzons aufeinander geschichtete Schalen gab es in Sydney nichts, was auf sie vorbereitet hätte. Sie gehorchten keiner Tradition, sondern begründeten eine neue.
Der dosierte Einsatz des Nie zuvor Gesehenen gehört zu den Regeln des Spiels, ebenso wie die überlegte Fortführung des Vorhandenen, seine variierende Weiterbildung, die etwas anderes ist als blinde Kopie. Darüber lohnt es sich zu streiten. Nietzsche, noch einmal, hielt die Frage, bis zu welchem Grade das Leben den Dienst der Geschichte brauche, für „eine der höchsten Fragen und Sorgen in Betreff der Gesundheit eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur.“ (8)

Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Baukultur vor Ort“ der Bundesstiftung Baukultur zum Thema ‚Potsdam: die Mitte verhandeln‘ am 11. Juli 2008. Interessenten für die geplante Veröffentlichung zur Veranstaltung wenden sich bitte an die Bundesstiftung baukultur mail@bundesstiftung-baukultur. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Bundesstiftung Baukultur. Der Text erschien erstmals in der Süddeutschen Zeitung vom 14.7.2008

Anmerkungen
1) Friedrich Nietzsche. Unzeitgemäße Betrachtungen. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: Kritische Studienausgabe KSA I. Berlin, 19882. S.268.

2) Magazin der Süddeutschen Zeitung.

3) Adalbert Stifter. Der Nachsommer. Ausgabe: München, 1977. S. 258.

4) Jürgen Paul. 2003. Zit. in: Arnold Bartetzky. Gebaute Geschichtsfiktionen. In: Paul Sigel, Bruno Klein (Hg.). Konstruktionen urbaner Identität. Berlin, 2006. S. 82.

5) W.R. Lethaby. Architecture, Mysticism and Myth. London, 1891, repr. 1974, S.1.

6) Ludwig Mies van der Rohe. Vortrag. 1926. In: Fritz Neumeyer. Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort. Berlin, 1986. S.313. – Hannes Meyer. „Wie ich arbeite“. In: Lena Meyer-Bergner (Hg.). Hannes Meyer. Bauen und Gesellschaft. Dresden, 1980. S.103.

7) Hans Poelzig. Festspielhaus in Salzburg. In: Das Kunstblatt 5 (1921) 3. S.81.

8 ) Friedrich Nietzsche. Vom Nutzen und Nachtheil-… I, S.257

 

 

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