Identitätssuche am Ort Mitte Spreeinsel in Berlin
Bruno Flierl untersucht in seinem Aufsatz, warum kein anderer Ort im heutigen Berlin so zum Objekt eines Identitätsstreits geworden ist wie der Ort Mitte Spreeinsel. Hier stand einst das Berliner Schloss der preußischen Könige und deutschen Kaiser und wird gegenwärtig der zur Zeit der DDR errichtete Palast der Republik abgerissen wird, um Platz für den Schlossneubau zu machen. ///
Der seit Beginn der 90er Jahre durch die Medien propagierte und inzwischen durch die Politik offiziell legitimierte Plan, dem Ort Mitte Spreeinsel in Berlin durch den Abriss des Palastes der Republik und den Wiederaufbau des Berliner Schlosses – auch wenn nur dem Bild nach – eine neue Identität zu geben, war von Anfang an retrospektiv im Sinne einer auf die Vergangenheit orientierten Reproduktion anstatt prospektiv im Sinne einer auf die Zukunft orientierten Neuproduktion von Geschichte. So einleuchtend es ist, dass der Palast der Republik als Symbolbau der DDR-Vergangenheit im geteilten Deutschland nicht zum Symbol der Zukunft im neu vereinten Deutschland werden kann, so zweifelhaft ist auch die diesbezügliche Eignung des Berliner Schlosses. Die künftige Identität der Deutschen von heute am Ort Mitte Spreeinsel ist nicht an Bauwerken wie Schloss und Palast festzumachen, sondern am Umgang mit ihrer Vergangenheit auf dem Weg in die Zukunft.
Die Entscheidung für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses und für den Abriss des Palastes der Republik verlief wesentlich auf zwei Ebenen: baugeschichtlich-ästhetisch und politisch-semantisch. Auf der ästhetischen Ebene wurde der Wert des barocken Schlosses gegen den Unwert des modernen Palastes als Architektur postuliert. Auf der anderen Ebene kam es darauf an, mit einem wieder aufgebauten Schloss – und sei es nur als Fassade – die Erinnerung an einen historischen Wert deutscher Vergangenheit in Berlin, gerade weil er durch Krieg und Nachkrieg verloren gegangen war, wieder zu beleben und zugleich zur Beseitigung der mit dem Palast noch baulich existenten Erinnerungen an die DDR zu nutzen.
Die große Verführung zum Schloss
Die ersten Forderungen zum Wiederaufbau des Schlosses wurden 1991 zunächst von Joachim Fest und Goerd Peschken erhoben. Joachim Fest, seiner Zeit einflussreicher Publizist der FAZ und Mitorganisator des Medienspektakels „Berlin morgen. Ideen für das Herz einer Großstadt“, gab die ideologische Grundrichtung für die Argumentation in den kommenden Jahren an, als er an die Adresse der DDR gerichtet sagte: „Wenn der Abbruch des Schlosses das Symbol ihres Sieges sein sollte, wäre die Wiedererrichtung des Schlosses das Symbol ihres Scheiterns“ . Damit war die Forderung zum Abriss des Palastes der Republik indirekt, aber unüberhörbar ausgesprochen: als ein Akt historischer Wiedergutmachung. Goerd Peschken, engagierter Kenner und Freund des Berliner Schlosses, setzte sich – in einem Projekt zusammen mit Frank Augustin – für die „Restitution von Stadtraum und Schloss“ ein, ohne den DDR-Palast abzureißen. Ihm war vielmehr daran gelegen, durch eine Montage beider Gebäude die Widersprüche und Brüche in der deutschen Geschichte gerade an diesem Ort nicht aus dem Bewusstsein der Menschen verschwinden zu lassen. Zu diesem Zweck schlug er vor, den westlichen Teil des Schlosses – den Eosander/Böhme-Teil – zunächst als Kulisse vor den Palast zu bauen und ihn durch eine elektronisch erzeugte Bildfassade wechselnd im unzerstörten Zustand vor dem Krieg und als Ruine nach dem Krieg vorzuführen. Gleichzeitig sollte eine Spiegelwand vor dem nördlichen Palast-Teil den DDR-Bau für den Blick aus Richtung Unter den Linden ausblenden und das Schloss in seiner ganzen Länge vortäuschen. Eine echte postmoderne Inszenierung. Für den inneren Ausbau der Gesamtanlage schlug Peschken eine etappenweise Transformation beider Gebäude durch Fusion vor. Dabei stieß er naturgemäß auf die unüberwindbare Schwierigkeit, dass der kunsthistorisch außerordentlich bedeutende östliche Schlosshof, der so genannte Schlüterhof, und der große Saal des Palastes nicht zu vereinen sind, weil sie sich gegenseitig räumlich ausschließen.
Genau an diesem Punkt hakte Wilhelm von Boddien ein, der sich der Renaissance des Berliner Schlosses verschworen hatte. Einerseits realisierte er 1993/94 die Fassaden-Idee von Peschken, indem er den westlichen Teil des Schlosses als riesige Kulisse samt Spiegel zur Ausblendung des Palastes 1:1 bauen ließ, andererseits popularisierte er damit – ganz im Sinne der Ideologie von Fest – den Abriss des Palastes und den Wiederaufbau des Schlosses, und zwar mit dem Schlüterhof als dessen Kernstück, auf das nicht zu verzichten sei. Mit dieser Inszenierung begleitete er absichtsvoll den zur gleichen Zeit vom Bund und vom Land Berlin veranstalteten öffentlichen Wettbewerb „Spreeinsel“, bei dem der Abriss des Palastes der Republik bereits als Aufgabe gestellt war. Seitdem besteht und funktioniert zu beiderseitigem Nutzen die lobbyistische Verbindung zwischen Wilhelm von Boddien und maßgeblichen Institutionen und Personen der Politik und der Medien, der Wirtschaft und der Kultur in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Auf diese Weise gelang es ihm, sein Konzept zuerst „medienwirksam“ und dann „mehrheitsfähig“ zu machen, wie er voller Stolz selbst sagte.
Die Schwierigkeiten auf dem Weg zum Schloss ergaben sich immer wieder aus den Problemen einer baulich realisierbaren und finanzierbaren Nutzung. Zuerst sollte das Schloss als staatliches Kongresszentrum mit Hotel und angegliederten kulturellen Einrichtungen errichtet werden. Dafür hatte sich besonders Bundeskanzler Helmut Kohl eingesetzt. Als das aus ökonomischen Gründen nicht ging, setzte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder für die Durchführung eines privaten Interessenbekundungsverfahrens zum Wiederaufbau des Schlosses ein. Das Ergebnis war derart niederschmetternd, dass es der Öffentlichkeit jahrelang vorenthalten wurde, weil es zu einer nicht vertretbaren privaten Vermarktung von Bau und Ort geführt hätte, die angesichts der in der DDR praktizierten gesellschaftlichen Öffentlichkeit und offenen Zugänglichkeit des Palastes der Republik blamabel gewesen wäre. So also konnte eine neue Identität für die Bundesrepublik an diesem Ort nicht entstehen. Da wirkte es wie ein glücklicher Befreiungsschlag, als der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann, 1999 vorschlug, mit seinem Museum für außereuropäische Kultur von Dahlem in die Mitte von Berlin umzuziehen und die ihm zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel zur Reparatur seiner sanierungsbedürftigen Dahlemer Gebäude besser für eine bauliche Unterbringung seiner Museumsschätze auf der Spreeinsel zu nutzen . Als sich dann auch noch andere Institutionen mit Raumbedarf und öffentlichen Mitteln für diesen Ort interessierten, nämlich die Zentrale Landesbibliothek Berlin und die Humboldt-Universität mit ihren Musealen Wissenschaftssammlungen, entstand die Hoffnung, endlich eine sinnstiftende Funktion für den Ort Mitte Spreeinsel gefunden zu haben, die den Abriss des Palastes der Republik und einen Neubau an dessen Stelle – nach Möglichkeit des Schlosses – rechtfertigt.
Eben dies sollte eine „Internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin“ prüfen, die Ende 2000 einberufen wurde und nach über einjähriger Arbeit am 17. April 2002 ihr Ergebnis in Form von Empfehlungen zur Neuaneignung des „Schlossareal“ genannten Ortes Mitte Spreeinsel vorlegte: Danach sollte das zu errichtende neue Gebäude anstelle des DDR-Palastes seiner baulichen Gestalt nach den geometrischen Maßen des alten Berliner Schlosses entsprechen und an drei seiner Außenseiten wie auch im Schlüterhof den traditionellen barocken Fassadenschmuck tragen. Die klassizistische Kuppel von Stüler über dem Haupteingang sollte dagegen ebenso wenig wie der gegenüber dem Dom gelegene Apothekenflügel der Renaissancezeit wiedererrichtet werden. Die Gestaltung der Spreeseite des Schlosses blieb offen. Angesichts des zu erwartenden Raumbedarfs sollte der westliche – von Eosander von Göthe stammende – Große Schlosshof, wenn notwendig, überbaut werden. Ein künftiger Architekten-Wettbewerb sollte auf den Ausbau dieses Schlossgebäudes hinter seinen barocken Fassaden beschränkt werden. Die Finanzierung war nach einem Aktienmodell in public private partnership – also weder rein public noch rein private, wie zuvor so erfolglos versucht – angedacht. Für das barocke Fassadenkleid versprach Wilhelm von Boddien private Spenden zu sammeln. Der für die gesamte Anlage erfundene Name „Humboldt-Forum“ schien wie eine Erlösung auf der Suche nach einer Identität stiftenden Sinnbestimmung für das gewünschte Schloss an einem Ort zu sein, der zuvor nach Marx und Engels benannt worden war. Ein Funktionsprogramm oder eine nähere Sinnbestimmung für dieses Forum, vor allem auch hinsichtlich seiner öffentlichen kulturell-kommunikativen Funktion, für die ein Agora genannter Bereich reserviert war, nicht zuletzt die für deren Betreibung notwendige finanzielle Absicherung – public oder/und private – wurde jedoch nicht fixiert. So blieb eigentlich fast alles außer der Entscheidung für ein gebautes Bild vom Schloss offen.
Dieser Empfehlung der Expertenkommission – und damit der Aussicht endlich das gewünschte Schloss zu erhalten – stimmte der Deutsche Bundestag am 4. Juli 2002 mit großer Mehrheit zu, allerdings verbunden mit der Aufforderung an die Bundesregierung und den Senat von Berlin, die für die Realisierbarkeit der Bauabsicht notwendigen Konzeptionen für Nutzung und Finanzierung alsbald auszuarbeiten und dem Bundestag zur Beschlussfassung vorzulegen und den Abriss des Palastes der Republik in die Wege zu leiten. Dieser Aufforderung nachzukommen waren die Angesprochenen jedoch nicht so schnell in der Lage: nicht nur aus aktuellen ökonomischen Gründen, wie im Sommer 2003 bekannt gegeben wurde, sondern auch wegen Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung eines komplexen Nutzungsprogramms für das Humboldt-Forum. Dem Bundestag blieb nichts anderes übrig, als dies auf seiner Sitzung am 13. November 2003 zunächst zur Kenntnis zu nehmen, aber zugleich seinen Willen zum Schloss mit der Forderung zu demonstrieren, dann wenigstens den Palast der Republik möglichst umgehend abzureißen und an seine Stelle eine Grünanlage vorzusehen – bis eines Tages der Neubau des Berliner Schlosses möglich wird. Aber auch dies ließ sich zwei Jahre lang nicht realisieren, nicht zuletzt wegen zuvor nicht genügend bedachter Komplikationen bei der technischen und finanziellen Realisierung des Palast-Abrisses. So geriet das so schnell beschlossene Wunschbild vom Schloss in einen von seinen Betreibern selbst verschuldeten Wartestand.
Diese Verzögerung nutzten Aktivisten der kulturell-kommunikativen Szene in Berlin mehr als zwei Jahre lang zu einer einzigartigen – „Volkspalast“ genannten – kreativen Zwischennutzung des Palastes der Republik als Transformation dieses historischen Ortes in eine alternative Zukunft , sehr zu Begeisterung einer jungen Generation von Berlinern und Berlinbesuchern, aber skeptisch betrachtet von Befürwortern des Schlossprojekts, besonders vom Förderverein zum Wiederaufbau des Schlosses wie auch von einer Mehrheit des Deutschen Bundestages, dessen Präsident, Wolfgang Thierse, seit 2004 Ehrenvorsitzender eben dieses Fördervereins ist. Dass auch andere Nutzer den Palast für ihre Zwecke zwischenzeitlich nutzten, für Theaterinszenierungen und Ausstellungen, aber auch für Tagungen und Feste, demonstrierte anschaulich, wie sinnvoll eine weitere Zwischennutzung dieses Gebäudes hätte sein können, bis das gewünschte Schloss oder eine andere bauliche Lösung an diesem Ort praktisch zur Realisierung drängt. Das aber wird nach Auskunft des Bundesbauministeriums nicht vor 2012 der Fall sein. Der Palast hätte demnach – eineinhalb Jahre Abriss eingerechnet – bis zum Sommer 2010 weiterhin zwischenzeitlich genutzt werden können. Statt dessen bekräftigte der Bundestag am 19. Januar 2006 erneut seinen Willen zum sofortigen Abriss des Palastgebäudes, indem er die von zwei Oppositionsparteien – Grüne und Linke/PDS – eingebrachten Forderungen, den Palast der Republik zwischenzeitlich solange weiterhin kulturell-kommunikativ zu nutzen, bis eine funktionell sinnvolle, baureife und vor allem auch finanzierbare Lösung für eine Identität stiftende Neuaneignung des Ortes Mitte Spreeinsel vorliegt, mehrheitlich ablehnte.
Inzwischen hat der Abriss des Palastes der Republik begonnen. Alle konkreten Fragen zum Neubau des Schlosses bleiben jedoch wie schon zuvor offen.
Das Schloss und seine aktuellen Bedeutungszuschreibungen
Um das alte Berliner Schloss in seinem Wert für heute neu zu begründen, bedurfte es aktueller Bedeutungszuschreibungen. Sie erwiesen sich größtenteils als äußerst problematisch, wenn nicht gar als falsch. Relativ harmlos, wenn auch nicht unwirksam, war die 1995 erfolgte Namensgebung „Schlossplatz“. Dieser Name war historisch dem südlich gelegenen Platz vor dem ehemaligen Hauptportal des Schlosses, dem Portal I, vorbehalten, später nach dem Abriss der ehemaligen Domkirche dem Platz vor den Portalen I und II an der Südseite des Schlosses. Was heute als Schlossplatz bezeichnet wird, bezieht sich auf den Bereich des ehem. Marx-Engels-Platzes, der den historischen Schlossplatz und das Schlossareal bis zum Lustgarten umfasste. Durch diese semantische Neuaneignung des Ortes Mitte Spreeinsel – als Platz für das wiederaufzubauende Schloss – wurde nicht nur der Name Marx-Engels-Platz, sondern auch ein Stück Erinnerung an die DDR getilgt und zugleich alte Geschichte vor der DDR beschworen.
Weitaus problematischer sind Bedeutungszuschreibungen für das Verhältnis von Schloss und Stadt. Wilhelm von Boddien zitiert immer wieder gern Wolf Jobst Siedler, der bereits 1993 gesagt hatte: „Das Schloss lag nicht in Berlin, Berlin war das Schloss“ . Die damit verbundene These von der unverzichtbaren Identifikation stiftenden Funktion des Schlosses für Berlin steht in engem Zusammenhang mit der These von der zentralen stadträumlichen Bedeutung des Schlosses als Mitte der Stadt, von der angeblich alle Stadtentwicklung ausging und auf die sie sich auch stets bezog. Tatsache ist, dass die bürgerliche Handelsstadt Berlin-Cölln schon seit dem 13. Jahrhundert existierte, bevor die Kurfürsten von Brandenburg eine Zwingburg am nordwestlichen Rand der Doppelstadt errichteten und dann später zum Renaissanceschloss umbauten. Zwar lag dieser Bau auf der Spreeinsel von der Breite Straße her achsial im Blick, zur alten Stadt östlich der Spree fehlte ihm jedoch eine adäquate stadträumliche Verbindung. Dieser städtebauliche Mangel sollte beim Ausbau Berlins zur Königsstadt Anfang des 18. Jahrhunderts behoben werden: das Renaissance-Schloss sollte nicht nur barock umgebaut und erweitert, sondern auch über einen repräsentativ gestalteten Schlossplatz mit neuem Dom stadträumlich wirksamer erschlossen werden, vor allem von Osten her aus dem Blick der Königsstraße als der via triumphalis, über die 1701 der eben erst zum König von Preußen gekrönte Friedrich I. in die Stadt einzog. Doch der zu diesem Zweck von Broebes gezeichnete Prospekt blieb ein Bild. Der Grund dafür war nicht nur Geldmangel, sondern sicher auch die Einsicht, dass die – übrigens auf dem Prospekt von Broebes bereits sichtbare – Stadterweiterung Berlins nach Westen hin, nämlich in die Bereiche Dorotheenstadt, Unter den Linden, Friedrichswerder und Friedrichstadt einer mindest ebenso praktischen wie auch repräsentativen räumlichen Verbindung zum Schloss bedurft hätte wie sie schon zur mittelalterlichen Stadt teils bestand, zumal sich das Schloss durch die Umbauten und Erweiterungen nach den Entwürfen von Schlüter, Eosander und Böhme bereits in diese Richtung orientiert hatte. Friedrich II. verlegte daher um die Mitte des 18. Jh. den seit langem schon notwendig gewordenen Neubau der Domkirche konsequenterweise weg von seiner tradierten Stelle am Schlossplatz südlich des Schlosses hin zum nördlich gelegenen Lustgarten. Durch diesen städtebaulichen Stellungswechsel inszenierte er absichtsvoll die Anbindung des Schlosses an die absolutistischen Bereiche der Königsstadt Berlin. Seitdem wurde die 1616 zunächst als Reitweg des Königs vom Schloss in den Tiergarten angelegte, nunmehr jedoch zur dominanten Stadtstraße ausgebaute Straße Unter den Linden zur Stadtachse in Richtung Schloss als ihrem Point de vue.
Diese für Berlin so attraktive stadträumliche Lösung hatte aber auch ihre Nachteile. Einmal war sie behaftet mit dem durch die Stadtentwicklung bedingten Mangel, dass das Schloss nicht achsial, sondern nur in Schrägansicht – noch dazu mit seiner verschatteten Nordseite – visuell in Szene gesetzt werden konnte, zum anderen mit dem Mangel, dass die dominante Hinwendung des Schlosses in Richtung Unter den Linden verstärkt zu seiner Abwendung von der historischen Altstadt führte. Durch diese seine Stellung zwischen beiden Stadtbereichen wurde das Schloss weder im Stadtraum noch im Leben der Stadt zur Mitte von Berlin. Zwar geriet es im Verlauf der Jahrhunderte in die geografische Mitte der anwachsenden Stadt, aber eingemauert in ein Häusermeer, durch das hindurch es sich nur über die Straße Unter den Linden stadträumlich wirkungsvoll bemerkbar machen konnte, wenngleich es mit seiner Westseite und dem dort gelegenen Haupt-Portal III durch die davor befindlichen Gebäude der „Schlossfreiheit“ dem Blick stark entzogen blieb. Von der Altstadt her war es jedoch räumlich kaum wahrnehmbar. Damit wurde es zur baulichen und zugleich sozialen Barriere zwischen zwei Welten der Stadt: der neu angelegten absolutistischen Stadt mit Forum Fridericianum, Zeughaus und Lustgarten samt Dom einerseits und der historischen Altstadt andererseits – zwei Welten der Stadt, die als Gegensatz von Schau- und Paradeseite und Hinterhof wahrgenommen wurden. Daran konnten auch Schinkels stadtplanerische und architektonische Eingriffe zu Beginn des 19. Jh. im Wesentlichen nichts ändern, da sie sich ausschließlich auf die Aufwertung der räumlichen und blickachsialen Beziehungen im städtebaulichen Umfeld des Schlosses bezogen: mit dem Bau der Schlossbrücke am Übergang von und zur Straße Unter den Linden, mit der Neunanlage des Lustgartens und dem Neubau des Museums nord-westlich gegenüber dem Schloss wie auch mit dem Neubau der Bauakademie auf dem südwestlich gegenüber dem Schloss gelegenen Friedrichswerder. Eine neue Beziehung zwischen dem Schlossbereich und der Altstadt entstand erst 1885 durch die Verlängerung der Straße Unter den Linden an der Nordseite des Schlosses vorbei über die Spree hinweg in die – analog zur Königsstraße – nun Kaiserstraße genannte Straße in die alte Stadt. Diese innerstädtische Verbindung, die es bis dahin nicht gegeben hatte, war für Berlin, seit 1871 Reichshauptstadt und auf dem Weg zur Weltstadt, schon aus Gründen wachsenden Verkehrs unumgänglich notwendig geworden. Entlang dieser neuen Verbindung hätte der zusammen mit dem Neubau des Berliner Doms durch Wilhelm von Raschdorf 1888 vorgeschlagene Schlossturm das Berliner Schloss in Ost-West-Richtung bipolar in Szene gesetzt. Aber das Projekt wurde nicht realisiert. So blieb die 1850 von Stüler über dem Portal III an der Westseite des Schlosses errichtete Kuppel das einzige weithin sichtbare bauliche Zeichen des Schlosses in der Stadt.
Nach den Zerstörungen des Krieges und dem Neuaufbau und Umbau der historischen Mitte Berlins zur Hauptstadt der DDR entstand eine veränderte stadträumliche und bauliche Situation rund um den Ort Mitte Spreeinsel. Das schwer kriegsbeschädigte Schloss wurde nicht wieder aufgebaut, nicht nur weil eine solche Unternehmung Anfang der 50er Jahre und noch lange Zeit danach schwer finanzierbar gewesen wäre, sondern weil es aus Gründen einer zugespitzten politisch-ideologischen Kritik am preußisch-deutschen Imperialismus, der für zwei Kriege verantwortlich gemacht wurde, nicht gewollt wurde. Die Entscheidung wäre sicher anders ausgefallen, wenn das Schloss nicht zerstört worden wäre. So aber war die DDR daran interessiert, ihre eigene gesellschaftliche Identität an diesem Ort früherer Herrschaft neu zu finden und baulich zu manifestieren. Das geschah mit der Anlage eines so genannten Zentralen Platzes für Demonstrationen und Feste, später auch für militärische Paraden genau an der Stelle des ehemaligen Schlosses – ein Akt mutwilliger Geschichtskorrektur, zumal dieser Platz, der 1951 den Namen Marx-Engels-Platz erhielt, nur gelegentlich für die geplanten Zwecke gebraucht wurde, meistens leer blieb und später als Parkplatz des Stadtzentrums verkam. Verbunden mit diesem Zentralen Platz sollte jenseits der Spree ein Zentrales Gebäude als Regierungshochhaus errichtet werden. Das aber wurde zum Glück nie gebaut, zuerst wegen fehlender finanzieller Voraussetzungen, später aus besserer Einsicht. 1973-1976 wurde stattdessen der Palast der Republik in Berliner Bauhöhe auf dem Platz selbst errichtet, ein mixtum compositum aus multifunktionalem Kulturhaus und Tagungsort der Volkskammer – halb Volkspalast, halb Staatspalast. Östlich der Spree entstand zwischen Karl-Liebknecht-Straße und Rathausstraße – ehemalige Kaiserstraße und Königsstraße – eine zentrale Grünanlage bis zum Alexanderplatz mit dem 1969 errichteten Fernsehturm als modernem und semantisch wirkungsvollen Stadtzeichen von Ost-Berlin, heute inzwischen akzeptiert als Stadtzeichen von ganz Berlin, sowie mit dem Neptunbrunnen zwischen Marienkirche und Rathaus, zuletzt mit dem in den 80er Jahren als Denkmalsbereich angelegten Marx-Engels-Forum. Auf diese Weise ist zwischen Forum Fridericianum und Alexanderplatz eine räumlich dominante Ost-West-Verbindung durch die historische Altstadt von Berlin geschaffen worden, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder gesucht, aber bis dato nie realisiert werden konnte. Dass sie nun entstand, brachte bei allem gravierenden Verlust an historischer Bausubstanz und traditionellem Stadtbild auch den Zugewinn eines räumlichen Zentrumsbandes, dem es wie schon unter DDR-Verhältnissen auch noch heute – weil nicht neu angeeignet – an zentraler Urbanität mangelt.
Das entscheidend Neue an der zur Zeit der DDR geschaffenen Situation ist, dass der Ort Mitte Spreeinsel mit dem jetzt zum Abriss verurteilten Palast der Republik – anders als zuvor mit dem Schloss – in Ost-West-Richtung räumlich in die Mitte der Stadt geraten ist und optisch tatsächlich so auch wahrgenommen wird. Das Palastgebäude war schon vom ersten Entwurf her derart am Ort Mitte Spreeinsel positioniert worden, dass der an der Schlossbrücke historisch vorgegebene Richtungsknick der Achse Unter den Linden und des Stadtraums zwischen Karl-Liebknecht-Straße und Rathausstraße durch die bewusst transparente Gestaltung des mittleren Gebäudeteils als mehrgeschossiges Foyer visuell bipolar vermittelt war. Für eine künftige bauliche Neuaneignung des Ortes Mitte Spreeinsel könnte diese neu entstandene bipolare Orientierung eine große Chance darstellen.
Allein schon in dieser Hinsicht scheint die monopolare Orientierung des zum Wiederaufbau vorgesehenen Schlosses auf die Stadtachse Unter den Linden sowie die von Senatsbaudirektors Hans Stimmann wiederholt als „kritische Rekonstruktion der Stadt“ ins Spiel gebrachte Neubebauung des Areals östlich des Schlosses – der „gotischen Stadt“ Berlin – wie auch der Schlossfreiheit westlich des Schlosses äußerst fragwürdig. Wilhelm von Boddien dagegen propagiert die Wiederherstellung der alten Straßenführung Unter den Linden-Schlossfreiheit westlich am Schloss vorbei, um den Bereich Schloss-Lustgarten vom Verkehr zu befreien und wie früher in eine „Oase der Ruhe und der Kultur“ zu verwandeln und zugleich die Beziehungen zwischen Schloss und Museumsinsel zu reaktivieren. Szenarien des mutwilligen Rückbaus in die Vergangenheit vor der DDR – zurück in die Zeit nach der Reichsgründung 1871, aber vor den Bau der Spreebrücke zwischen Schloss und Dom und auch vor den Abriss der Gebäude an der Schlossfreiheit 1890 zugunsten des dort errichteten Kaiser-Wilhelm-Denkmals – also zurück vor die Modernisierung Berlins zur Weltstadt.
Diese geradezu schwärmerische Verliebtheit in eine vermeintlich noch stimmige Vergangenheit Berlins mit dem Schloss als der Mitte der Stadt – ohne die Berlin nicht Berlin sein kann – verbindet sich bei den Schlossfreunden von heute mit einer von historisch-gesellschaftlicher Kritik ungetrübten Sehnsucht nach der Schönheit des Schlosses als der Krone der Stadt, ohne die Berlin ebenfalls nicht Berlin sein kann.
Zweifelsohne war das Schloss von höchstem ästhetischem Wert. Und unbestritten hatte Andreas Schlüter den entscheidenden Anteil daran. Wenn es erhalten geblieben wäre, würde es als kostbares Bau- und Kunstdenkmal sorgfältig gepflegt werden. Was davon allerdings neuerdings wiedererstehen soll, reduziert sich auf die von Schlüter her initiierten Barockfassaden dreier Außenseiten und dreier Innenseiten des östlichen Hofes, auf die allein sich die Empfehlungen der Expertenkommission und des Deutschen Bundestages beziehen, popularisiert Wilhelm von Boddien jedoch in seinem Berliner Extrablatt schon seit Jahren die „Schönheit“ des Schlosses mit allen seinen prunkvollen Innenräumen wie auch mit dem wieder aufgebauten Kuppelturm von Stüler, um den Wert des Schlosses zu begründen und Lust auf Spenden für die Barockfassaden zu wecken, ja er erfindet sogar- ganz ohne Bauauftrag – die aus der Zeit Schlüters fehlende vierte Barockfassade des östlichen Schlosshofes. Eine perfekte Public-Relation-Show, nur ohne Realtität, aber alles im Namen der Schönheit!
Was ist diese Schloss-Schönheit eigentlich wert, wenn sie realiter nur als äußeres Bild vom ehemaligen Schloss wahrnehmbar ist und keinerlei Bezug hat zu dem, was den Betrachter erwartet, wenn er den Schlossbau betritt? Führt diese Art von Schloss-Inszenierung nicht zwangsläufig zu einer Scheinwelt Schloss, die eine Art „Themenpark Geschichte“ als „wieder aufgeführte Vergangenheit“ in der Gegenwart gründet? Daran werden vermutlich höchstens eilige Touristen ihre Freude haben, da ihnen der Schock erspart bleibt, den krassen Widerspruch zwischen innen und außen zu erleben, oder aber geladene Gäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur des In- und Auslands, die sich im vierseitig barock gestalteten, Glas überdachten und klimatisierten Schlüterhof vor historischer Kulisse ihrer herausgehobenen Bedeutung bewusst werden sollen.
Bei alledem bleibt die Frage: Was nutzen letzten Endes alle solchen Überlegungen zur ideell-ästhetischen Bedeutung des Berliner Schlosses, solange die materiell-praktischen Voraussetzungen – Nutzung und Finanzierung – seines Wiederaufbaus nicht gesichert sind, wenn, wie beschlossen, statt einer kulturell-kommunikativ aktiven Zwischennutzung des Palastes der Republik einer kommunikationslosen grünen Wiese als Zwischennutzung des leer geräumten Ortes Mitte Spreeinsel der Vorzug gegeben wird. Wer mit dieser Lösung – und wer weiß auf wie lange – nicht einverstanden ist, dass nämlich dieser Ort quasi als „Wiese der Republik“ dem besinnlichen „Warten auf das Schloss“ dienen soll, falls er nicht bürgernah und touristenfreundlich in einen Freizeittummelplatz verwandelt wird, dem bleibt die Chance, diesen Ort für die Zukunft erst einmal geistig neu anzueignen: als Voraussetzung für eine alternative Lösung seiner funktionellen und baulichen Neuaneignung.
Alternative für den Ort Mitte Spreeinsel
Eine wahrhaft legitime Sinnstiftung für den Ort Mitte Spreeinsel in Berlin wäre, ihn zu einem Ort aufgehobener deutscher Geschichte zu machen, zu einem Ort der öffentlichen Auseinandersetzung mit ihr – zukunftsorientiert unter dem Aspekt der deutschen Vereinigung ebenso wie der europäischen Integration und weltweiten Globalisierung. Ob das in einer reproduzierten Schlosshülle oder in einem Neubau aus dem Geist unserer Zeit geschehen sollte, müsste durch einen offenen Architektenwettbewerb entschieden werden. Jedenfalls bedürfte eine alternative Konzeption zuerst der Ausarbeitung eines inhaltlichen Konzepts, dann eines Bauprogramms mit einem finanzierbaren Funktionsprogramm sowie mit städtebaulich-architektonischen Vorgaben für die Klärung der Bauaufgabe durch einen Architektenwettbewerb, eventuell eines zweiten Architektenwettbewerbs, und dies alles mit Einbeziehung der interessierten Öffentlichkeit. Die Voraussetzung dafür allerdings wäre, dass sich für diese Bauaufgabe ein Auftraggeber konstituiert, der im Bewusstsein der historischen Dimension der Bauaufgabe nicht nur die inhaltliche Konzeption vertritt, sondern auch dessen Finanzierung garantiert. Ein Wettbewerb würde zwar städtebauliche Leitlinien vorgeben, jedoch keine Einschränkungen bezüglich der architektonischen Gestaltung formulieren. Denkbar wären dann Antworten auf die unterschiedlichsten Fragen: Ob das Schloss neu aufzubauen sei oder ob ein Neubau ohne historische Zitate vorzuziehen sei oder ob unter Umständen bauliche Erinnerungen an Schloss und Palast – und damit an die wechselvolle und widersprüchliche Vergangenheit an diesem Ort – synthetisiert werden und dadurch produktiv und vielschichtig Identität stiftend wirken könnten.
Vieles ist möglich am Ort Mitte Spreeinsel in Berlin, wenn zukunftsorientiertes Denken auf neue Weise freigesetzt würde, wenn die Identitätssuche an diesem Ort von der Frage getragen würde: Was ist uns Deutschen dieser Ort wert – und: was sind wir uns wert an diesem Ort?
Zuvor erschienen in: Paul Sigel und Bruno Klein (Hg.): Konstruktion urbaner Identität. Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart, Berlin 2006. Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.